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John Sweeney war ein angesehener Journalist in Großbritannien. Einmal hatte er sich in Zimbabwe im Kofferraum eines Autos versteckt, um den Oppositionsführer treffen zu können; er war ausgezeichnet für Berichte über Menschenrechtsverletzungen in Algerien, im Kosovo, in Tschetschenien. Und nun gab es diese Filmaufnahmen: Wie er einen Pressemenschen von Scientology anschreit. Wie er die Kontrolle über sich in einem Maße verliert, das alles in Nachmittagstalkshows gesehene übersteigt, und mit hochrotem Kopf und sich überschlagender Stimme brüllt und brüllt und brüllt.
Scientology selbst hatte das Video gemacht, als Sweeney für die BBC eine Dokumentation über die Organisation drehte, und brachte es nun in die Öffentlichkeit. Der Auftritt des Journalisten wirkt auf den Bildern so abstoßend, dass die BBC eigentlich mit allen Mitteln dafür sorgen müssen, dass so wenige ihrer Zuschauer wie möglich sie sehen. Stattdessen zeigte sie sie selbst.
Sie brachte sie in der Dokumentation, verlinkte von ihren Internetseiten auf den Scientology-Ausschnitt, diskutierte den Vorfall ausführlich. Sweeney versuchte, sich zu erklären und zu entschuldigen, und sein Redakteur erklärte: „Ich bin sehr enttäuscht von Sweeney.“ Dadurch, dass der Sender selbst über den Fall berichtete, konnte er ihn im Kontext darstellen und seine eigene Sicht der Dinge hinzufügen. Vor allem aber hatte die BBC erkannt, dass das Schlimmste für sie nicht wäre, wenn viele Zuschauer die Aufnahmen ihres ausrastenden Journalisten sehen würden. Das Schlimmste wäre es, wenn die Zuschauer das Gefühl hätten, die BBC würde versuchen, diese Aufnahmen vor ihnen zu verstecken und den Fall kleinzureden.
Diese Logik gilt nicht nur im Verhältnis von Medien zu ihrem Publikum. Sie gilt generell. Es geht um Vertrauen. Die meisten Menschen werden akzeptieren, dass Fehler passieren. Die wenigsten werden akzeptieren, dass diese Fehler vertuscht werden.
Das klingt so banal, dass man es kaum hinschreiben mag. Und bestimmt doch so wenig das Handeln von Unternehmen.
Wie aus einem relativ überschaubaren Problem eine unkontrollierbare Krise wird, weil die Reaktion als Versuch gesehen wird, unangenehme Wahrheiten zu verbergen, dafür gibt es viele Beispiele – jüngst die Störfälle in den Atomkraftwerken von Vattenfall. Dass in deren Folge der Deutschlandchef gehen mussten lag nicht an den technischen, sondern an den kommunikativen Pannen. Die fehlende Transparenz war eine einzige misstrauensbildende Maßnahme. Inzwischen stellt Vattenfall nach eigenen Angaben alle Informationen über die Störfälle umgehend ins Internet. Das ist ein bisschen spät.
Die meisten Experten für Krisenkommunikation sind sich einig, was ein Unternehmen tun sollte, wenn etwas schief läuft: schnell, umfassend und transparent informieren. Doch bei den Verantwortlichen scheint die Sorge um den Vertrauensverlust durch mangelnde Offenheit immer noch kleiner als die, schlafende Hunde zu wecken und Kunden durch die eigene Kommunikation überhaupt erst darauf aufmerksam zu machen, dass etwas schief gegangen ist.
Dabei spricht vieles dafür, dass sich durch Transparenz und die Demonstration des eigenen Verantwortungsbewusstseins die negativen Wirkungen von Pannen nicht nur ausgleichen, sondern mehr als wettmachen lässt. Am eindrucksvollsten zeigte das der Pharmariese Johnson & Johnson, als im Herbst 1982 in Chicago mehrere Menschen starben, die vergiftete Schmerztabletten der Marke Tylenol eingenommen hatten. Obwohl es sich um eine kriminelle Manipulation und nicht um einen eigenen Fehler handelte, sah sich der Hersteller in der Verantwortung, warnte in Anzeigen vor dem Konsum jeglicher Tylenol-Produkte und tauschte in einer gewaltigen Rückrufaktion landesweit Tabletten im Wert von 100 Millionen Dollar aus. Rechtlich bestand dazu keine Notwendigkeit, und viele Beobachter glaubten, dass danach die Marke Tylenol tot sein würde. Doch als Johnson & Johnson das Produkt einige Monate später in neuer, sichererer Form auf den Markt brachte, zahlte sich die offensive Offenheit aus: Die drastischen Maßnahmen hatten das Vertrauen der Kunden in die Marke gestärkt: Sie machten Tylenol wieder zum Marktführer.
Das ist jetzt 25 Jahre her, und scheint die Manager in Deutschland wenig beeindruckt zu haben. Freimütig Fehler einzuräumen, das ist für die meisten immer noch undenkbar. Der Reflex lautet: Das stimmt gar nicht, das ist gar nicht so schlimm, das war nicht unsere Schuld.
Und natürlich ist es schwer, eine umfassende Rechnung aufzumachen, wann sich die Transparenz für ein Unternehmen lohnt. Wann es nicht nur ethisch gut ist, eigenes Fehlverhalten offenzulegen, sondern nützlich. Die Folgen gescheiterter Vertuschungsstrategien sind dramatisch, aber wie oft hat sich die Vertuschung ausgezahlt, weil sie erfolgreich war und die breite Öffentlichkeit nicht von einem Skandal oder seinen wahren Ausmaßen erfuhr? Und wie groß ist die Gefahr, dass das Publikum die eigene Offenheit nicht würdigt, sondern nur den Fehler sieht im Vergleich zu Konkurrenten, bei denen es keinen Fehler sieht?
Dennoch spricht im digitalen Zeitalter immer mehr für eine aufrichtige Kommunikation mit den Menschen. Weil unliebsame Informationen plötzlich – ohne Filter durch die Medien – aus allen Richtungen kommen können und sich immer weniger unterdrücken lassen. Und weil das Internet jedem die Möglichkeit bietet, direkt mit seiner „Zielgruppe“ zu kommunizieren. Schon 1999 forderte das von Internet-Vordenkern verfasste „Cluetrain Manifest“, mit Menschen wie mit Menschen zu reden. Doch auch acht Jahre später ist es immer noch eine kleine Sensation, wenn Kirstin Walther, Geschäftsführerin der gleichnamigen Kelterei, in ihrem Saftblog offenherzig von den Pannen erzählt, wie der, als ein Kunde auf der Tüte in seinem Getränkekarton einen handgeschriebenen Aufkleber fand: „Ich bin der 475. Beutel! Ist der Rotz bald mal alle!“
Andererseits: Solange Transparenz noch so rar ist, müsste sie sich für jedes Unternehmen doppelt lohnen.