„Come on reader, make my day“

Es war der Vormittag des 28. Dezember 2006, und Toby Harnden, USA-Chef der britischen Zeitung „Daily Telegraph“, saß in seinem Büro in Washington und hatte ein Problem. Die Hinrichtung Saddam Husseins schien unmittelbar bevorzustehen, aber was auch unmittelbar bevorstand, war der Redaktionsschluss der Zeitung. Das Interesse der Menschen, etwas über das Geschehen in Bagdad zu erfahren, würde am nächsten Morgen vermutlich riesengroß sein, und der „Daily Telegraph“ fand, dass dieses Geschehen deshalb in der Zeitung nicht fehlen durfte. Aber da es zuvor bereits Dutzende Hinrichtungen gegeben hatte und Iraker und Amerikaner die Journalisten über den Ablauf informiert hatten, dachte Harnden, er könnte vorab ein fundiertes Stück schreiben, was wohl geschehen werde. Bzw., aus Sicht der Leser, was wohl geschehen ist.

Es war keine gute Entscheidung.

Harndens Stück erschien am 29. Dezember und beschrieb höchst detailliert die Hinrichtung, die es hätte werden sollen. Der Artikel [zu lesen hier in den Kommentaren] machte an verschiedenen Stellen deutlich, dass er vor dem tatsächlichen Geschehen geschrieben wurde. Doch das minderte seine Peinlichkeit nur minimal, als sich herausstellte, wie sehr die tatsächliche Prozedur von der theoretischen abwich. Die Zeitung hatte für den Artikel zudem ausgerechnet die Überschrift „Humiliated and hooded…“ gewählt, so dass einer der vielen Fehler auch noch herausstach (Saddam trug keine Maske) .

Nun lässt der „Daily Telegraph“ in seinem Internetangebot eine Reihe von Kolumnisten und Korrespondenten bloggen, und Harnden nutzte sein Blog, um die Geschichte hinter dieser Geschichte zu erzählen. Er antwortete dort einem Kritiker, der ihm eine heftige Beschwerde-E-Mail geschrieben hatte:

You’re right that writing about Saddam’s hanging before it happened was not my finest hour. It was one of those tricky journalistic challenges when no matter how much you hedge and speculate, the reality will always mischievously diverge from the finely-turned piece one filed.

Er begründete die Idee, die Hinrichtung zu beschreiben, bevor sie überhaupt stattgefunden hatte, mit dem Leser-Interesse gerade an den makaberen Details der Prozedur. Er beschrieb die Überlegungen in der Redaktion und erklärte das Geschehen mit der Schwierigkeit der „alten Medien“ mit ihren feststehenden Deadlines und den Komplikationen, über verschiedene Zeitzonen zu schreiben.

Harndens Erklärungen waren nicht immer überzeugend und warfen kein gutes Licht auf die faulen Kompromisse, die die Print-Journalisten bereit waren einzugehen, um den Nachteil des frühen Redaktionsschlusses zu verschleiern. Aber sie waren beeindruckend offen und transparent – einem Blog angemessen.

Diese Offenheit zahlte sich nicht aus. In Dutzenden Kommentaren wurde Harnden teils heftig beschimpft. Am Donnerstag wurde es dem „Daily Telegraph“ wohl zuviel mit der Transparenz – er entfernte den Eintrag mitsamt den Kommentaren ohne Erklärung von der Seite. Ein Sprecher der Zeitung sagte später, dies sei aus „rechtlichen Gründen“ geschehen.

Und der „Telegraph“ beließ es nicht dabei. Seine Blogger sollen nach einem Bericht des „Guardian“ nun nicht mehr über die Zeitung selbst oder Kunstgriffe und Praktiken der Branche schreiben und ihre Einträge vor der Veröffentlichung von einem Redakteur gegenchecken lassen.

Der „Telegraph“-Online-Nachrichtenchef Shane Richmond teilte seinen bloggenden Kollegen mit, dass Beschimpfungen des Bloggers oder von Lesern nicht mehr geduldet würden, und riet ihnen, auf solche ausfälligen Leser auch nicht in den Kommentaren einzugehen. Vor allem aber warnte er sie:

Please avoid blogging about your relationship with your employer, whether the Telegraph Media Group as an entity, ‚the desk‘ or ‚my boss‘, even in jest. Such comments are frequently misconstrued and can easily backfire.

Think carefully before blogging about journalistic ‚tricks of the trade‘. We don’t want to discourage this because it is one of the things people enjoy reading on the blogs but please be aware of anything that could be misunderstood or turned against you.

In seinem ursprünglichen Eintrag [zu finden hier unter den Kommentaren] hatte Harnden noch unter der Überschrift „Come on reader, make my day“ geschrieben, er könne mit dem heftigen, direkten Feedback der Leser in der heutigen Zeit umgehen. Seine Zeitung kann es offenkundig nicht. Und sie lässt ihn nicht einmal mehr das Dilemma selbst thematisieren.

6 Replies to “„Come on reader, make my day“”

  1. Wo liegt denn jetzt genau der Unterschied, sagen wir, zum Bildblog, für dessen Kommentarsperre Du ja sehr ähnlich argumentierst: dass Ihr die Kommentarmenge und -qualität nicht mehr in den Griff bekommen könnt (und damit auch nicht das rechtliche Risiko) – ich kenne nicht die Art der Kommentare dort; aber wo liegt in der Argumentation jetzt genau der Unterschied?

    Dies natürlich eimmal abgesehen von dem anderen von Dir angesprochenen – wichtigen – Punkt, dass die Journalisten selbst sich nicht einmal zu dem Thema äußern können, was ziemlich absurd ist.

  2. @#2: Die Frage stellt sich durchaus, das ist richtig. Für mich liegt jedoch der grundlegende Unterschied im Adressaten der Kommentare: Während im Bildblog in neun von zehn Fällen eine Kommentierung der Arbeit der Bild“zeitung“ (also eines Dritten) zu erwarten sein dürfte, was das Bildblog tatsächlich sehr schnell in das anderenorts unterstellte Hetzmedium verwandeln könnte, geht es in diesem Fall doch darum, an der Kommentierung der eigenen Arbeit nicht interessiert zu sein. Und wenn dies in Form der Abschaffung einer zuvor gewährten Einrichtung erfolgt, hat das schon eine gewisse Qualität, denke ich. Da gibt in meinen Augen ein Medium ziemlich offen zu, im kornelischen Sinn dann jetzt doch lieber „normal“ bleiben zu wollen…

    Das ist in der Tat schade.

  3. Die „herkömmlichen“ Medien ringen sehr offensichtlich mit den Möglichkeiten, die Blogs ihnen bieten. Im Moment erscheint es mir an vielen Stellen so, als ob sie es nicht schaffen, etwas Relevantes auf die Beine zu stellen (was sich darin zeigt, dass keiner Kommentare abgibt, gescheige denn verlinkt). Oder die Blogs werden „versteckt“. So versuchte ich bei FAZ-Jobnet das Blog zu finden – sehr mühselig. Und dann konnte man nicht mal kommentieren – es sei denn, man wollte sich als User registrieren. Meiner Meinung nach Web 2.0 vollkommen missverstanden.

  4. […] Da bricht eine Welle der Erregung los, dass die Hinrichtung Saddams Husseins bis ins letzte Detail im Web zu sehen ist. Zeitungskommentatoren machen eine “Seuche Internet” aus. Und dann ist es einer der schreibenden Zunft, der die Details offenbar schon kennt, bevor sie sich überhaupt ereignet haben. Die Rede ist vom USA-Chef des “Daily Telegraph”, Toby Harnden. Stefan Niggemeier berichtet von dem findigen Journalisten, der schon am Tage vor dem Sterben des Ex-Diktators am Strang eine detaillierte Beschreibung der Geschehens vom nächsten Morgen schrieb. Pech nur, dass Saddam das Tragen der Gesichtsmaske verweigerte. […]

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