Vor acht Jahren war ich am Wahlabend in Lissabon. Ich hatte mit einer Freundin als Ausgleich für den verregneten Sommer eine Woche auf Madeira verbracht, und auf dem Rückweg stoppten wir noch ein paar Tage in der portugiesischen Hauptstadt. Ich weiß nicht mehr genau, ob ich die ganze Nacht in meinem Hotelzimmer ferngesehen habe, weil ich nicht schlafen konnte, oder umgekehrt. Ich weiß nur noch, dass ich am nächsten Tag wie gerädert war, aber alles noch wie ein Alptraum schien, der vorbeigehen könnte. Vorbeigehen müsste.
Die Verlauf der Wahl 2000, die George W. Bush zum Präsidenten der Vereinigten Staaten machte, enthielt viele Lektionen: Einige haben mit handfesten Manipulationen im Wahlprozess selbst zu tun, andere mit der entscheidenden Rolle, die die Massenmedien in einem solchen Prozess spielen können.
Besonders eindrucksvoll zeigte sich die Macht von Rollenverteilungen, Dramaturgien und bekannten Erzählstrukturen (narratives): Nachdem die Fernsehsender George Bush voreilig zum Gewinner ausgerufen hatten, konnte er kaum noch verlieren. Von diesem Moment an war die Rollenverteilung klar: Al Gore erschien wie der Verlierer, der versucht, dem Sieger noch den Titel zu entreißen. Bushs Leute mussten in der Erzählweise der Medien nicht mehr beweisen, dass sie genügend Stimmen in Florida haben, Gores Leute mussten beweisen, dass er sie nicht hat. Mit jedem Tag manischer Berichterstattung wurde der Druck auf Gore größer, den Prozess der Regierungsbildung nicht mehr aufzuhalten.
(Mehr über die mögliche Wirkung von narratives in einem Artikel von mir über die Wirkung der Medien im Vorwahlkampf von Hillary Clinton gegen Barack Obama und einem Interview mit dem Kommunikationsberater Klaus Kocks vor der Bundestagswahl 2005.)
Und wie kam es dazu, dass Bush voreilig zum Sieger erklärt wurde? Der republikanische Fernsehsender Fox News hatte als erster erklärt, Bush habe Florida und damit die Wahl insgesamt gewonnen. Innerhalb von Minuten zogen die anderen Sender nach — obwohl die vorliegenden Daten ein solches Urteil nicht hergaben.
CNN hat nach dem Desaster einen unabhängigen Bericht in Auftrag gegeben und Anfang 2001 veröffentlicht, der den Verlauf des Abends minutiös nachzeichnet [pdf].
Die Autoren stellten an den Anfang ihres Berichtes folgendes vernichtendes und sicher über den konkreten Fall hinaus gültiges Urteil:
On Election Day 2000, television news organizations staged a collective drag race on the crowded highway of democracy, recklessly endangering the electoral process, the political life of the country, and their own credibility, all for reasons that may be conceptually flawed and commercially questionable.
Their excessive speed, combined with an overconfidence in experts and a reliance on increasingly dubious polls, produced a powerful collision between the public interest and the private competitive interests of the television news operations and the corporations that own them.
Their hyper-competition stemmed from a foolish attempt to beat their rivals to the finish line in calling state-by-state winners in the presidential election, foolish because few in the crowd knew then or know now which network got the checkered flag most often. Foolish because each network funded its competitor’s work. Foolish, too, because their haste led to two mistaken calls in the state that turned out to hold the key to the outcome of the election. All, in turn, played an important role in creating the ensuing climate of rancor and bitterness.
Those calls and their retractions constituted a news disaster that damaged democracy and journalism.
[via FiveThirtyEight.com]
„Nachdem die Fernsehsender George Bush voreilig zum Gewinner ausgerufen hatten, konnte er kaum noch verlieren. Von diesem Moment an war die Rollenverteilung klar: Al Gore erschien wie der Verlierer, der versucht, dem Sieger noch den Titel zu entreißen. Bushs Leute mussten in der Erzählweise der Medien nicht mehr beweisen, dass sie genügend Stimmen in Florida haben, Gores Leute mussten beweisen, dass er sie nicht hat.“
Ist das nicht etwas überzogen? Erst der Supreme Court stoppte die -unsystematischen- Neuauszählungen in Florida, und das mit einer denkbar knappen Mehrheit, wenn ich mich richtig erinnere.
„Nachdem die Fernsehsender George Bush voreilig zum Gewinner ausgerufen hatten, konnte er kaum noch verlieren.“ Was fü ein hanebüchener Unsinn. Die Entscheidung wurde nach rechtsstaatlichen Prinzipien gerichtlich getroffen, mit den „Fernsehsendern“ hatte das nix zu tun. Man stelle sich vor, der andere Trottel hätte mit 300 Stimmen Vorsprung und 5:4 im Supreme Court gewonnen… was wäre dann mit dem Argument? HAHAHA
Denke auch dass es mehr an einer konservativ ausgeprägten Mehrheit des Supreme Court lag und elementaren Versäumnisse betreffend einer einheitlichen Reglung zu den Wahlen innerhalb Floridas dem Ganzen vorausgingen. So wie dass obwohl man musste dass die Wahlmaschinen nicht funktionieren nichts unternommen hat…
Kurz um: Mehr eine Frage des Rechts als der Medien.
Aber hey..2000
[…] schaffe ich es immerhin noch, vor dem Einschlafen die von Stefan Niggemeier (hier und hier) empfohlenen Texte zu lesen. Bitte klicken Sie sich dort weiter. Oder starren Sie gebannt […]
[…] 2008 Erste Erkenntnisse am Wahlabend 2004 2000 […]
Es ist immer sehr lustig mit anzusehen, wie ehemals intelligente Menschen angesichts des Themas „amerikanische Wahlen“ ihren Verstand im Nebel einer Obamanie verlieren. Dass jetzt aber sogar Stefan Niggemeier, den ich eigentlich sehr bewundere, nicht zuletzt wegen des Bemühens, objektiv oder wenigstens sachlich zu bleiben, tatsächlich der Meinung ist, ein Fernsehsender habe es schaffen können, die US-Wahl 2000 zu entscheiden, ist wirklich einer der Höhepunkte der deutschen Gehirnweitwerferei.
Nicht den Boten (St. Niggemeier) steinigen.
„CNN hat nach dem Desaster einen unabhängigen Bericht in Auftrag gegeben und Anfang 2001 veröffentlicht, der den Verlauf des Abends minutiös nachzeichnet“.
Niggemeiers Schluss daraus leuchtet mir ein (ich gehe davon aus, dass er den Bericht gelesen hat).
Doch, das TV hat durchaus Macht.
Das faszinierende an der US Wahl 2000 ist doch, das unabhängig vom knappen Florida-Ergebnis Al Gore ca. 1/2 Million mehr Wähler hatte, aber trotzdem aufgrund des seltsamen Wahlmänner-Systems verloren hat. Da geht imho immer etwas unter.
huzz: Das ist richtig, aber auch keine Katastrophe.
Jedes Wahlsystem bringt unter bestimmten Voraussetzungen paradox erscheinende Ergebnisse zutage. Man denke an das sog. negative Stimmengewicht im deutschen Bundes-Wahlrecht.