Neues von Werther: Suizid-Häufung nach breiter Suizid-Berichterstattung

Selbstmord ist ansteckend. Berichterstattung über Suizide erhöht die Zahl der Suizide. Eine neue Studie aus den Vereinigten Staaten liefert weitere Indizien dafür, dass dieser sogenannte „Werther-Effekt“ tatsächlich existiert.

Die Forscher, unter anderem von der Columbia Universität in New York, untersuchten Selbsttötungen von Jugendlichen in den Vereinigten Staaten zwischen 1988 und 1996. Einerseits Fälle, bei denen sich mehrere Jugendliche innerhalb einer begrenzten Zeit an einem Ort das Leben nahmen. Und andererseits Fälle, bei denen es bei einem einzelnen Suizid blieb. Dann verglichen sie die Berichterstattung in den Zeitungen jeweils nach dem ersten Suizid. Sie stellten fest, dass es signifikante Unterschiede gab.

In den Fällen, in denen es zu weiteren Suiziden kam, hatten die Zeitungen im Durchschnitt häufiger und ausführlicher über Suizide berichtet, mehr Details wie den Namen des Opfers, Zeit, Ort und Methode genannt und häufiger Abschiedsbriefe erwähnt. Die Berichterstattung hatte im Durchschnitt häufiger auf der Titelseite stattgefunden oder war durch ein Foto illustriert; die Beschreibung war expliziter und die Überschriften waren sensationalistischer gewesen.

Die Studie kann keinen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Berichterstattung und den Folge-Suiziden herstellen, sondern nur eine Korrelation. Die Ursachen für Suizide und ihre Häufung sind komplex, und die mediale Berichterstattung macht sicher nur einen Faktor unter mehreren aus. Die Studie stützt aber die Annahme, dass eine bestimmte Form der Berichterstattung über Suizide die Wahrscheinlichkeit weiterer Suizide erhöht.

48 Cluster von Suiziden von 13- bis 20-Jährigen zwischen 1988 und 1996 bilden die Grundlage der Untersuchung: Keine gemeinsamen, abgesprochenen Suizide, sondern Häufungen an einem Ort mit drei bis elf Suiziden innerhalb eines Zeitraums von bis zu einem halben Jahr. Jedes dieser Cluster verglichen die Forscher mit zwei Suizid-Fällen in ähnlichen Städten, in denen es nicht zu weiteren Suiziden gekommen war.

Sie betrachteten dabei auch Ort und Art des jeweils ersten Suizids, um auszuschließen, dass es besonders auffällige, dramatische oder öffentliche Fälle waren, die für eine größere Berichterstattung sorgten und dadurch zu mehr Nachahmern führten. Todes-Ort und -Art unterschieden sich aber bei den Fällen mit einer anschließenden Häufung nicht signifikant von den Fällen ohne eine anschließende Häufung. Was sich unterschied, war die Berichterstattung.

Einen Zusammenhang mit der Entstehung von Suizid-Häufungen gab es nicht bei allgemeinen Zeitungs-Artikeln über das Thema, sondern nur bei Berichten über konkrete Selbsttötungen von Individuen. Die stärksten Effekte gab es bei Berichten über Suizide von Teenagern — wenn die Leser also mit dem Betroffenen identifizieren können — und von Prominenten — wenn die Leser den Betroffenen verehrten.

Die untersuchten Fälle lagen zwar alle vor dem Aufkommen von Social Media. Sie sind aber nach Ansicht der Autoren immer noch relevant. In einer Untersuchung von 2011, bei der 14- bis 24-Jährigen gefragt wurden, woher sie von einem Suizid erfuhren, hätten zwei Drittel Zeitungsberichte als Quelle genannt, noch vor Freunden und Verwandten (55 Prozent) und Online-Medien (44 Prozent).

Die Ergebnisse sind konsistent mit vielen anderen Studien über den „Werther-Effekt“. Sie bestätigen, welche Bedeutung Empfehlungen wie die der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention haben, nach denen in der Berichterstattung u.a. vermieden werden sollte:

  • einen Suizid auf der Titelseite oder als „TOP-News“ erscheinen zu lassen
  • ein Foto der betreffenden Person (besonders auf der Titelseite) zu präsentieren und Abschiedsbriefe zu veröffentlichen.
  • den Suizid als nachvollziehbare, konsequente oder unausweichliche Reaktion oder gar positiv oder billigend darzustellen bzw. den Eindruck zu erwecken, etwas oder jemand habe „in den Suizid getrieben“. („Für ihn gab es keinen Ausweg“).
  • die Suizidmethode und den Ort detailliert zu beschreiben oder abzubilden

Mir fehlt jetzt noch eine Studie, ob die vielen Journalisten, die diese Empfehlungen ignorieren, nicht an die beschriebenen Folgen ihrer Berichterstattung glauben — oder sie sie bewusst in Kauf nehmen.

 
Die Studie:

 
Aus dem Archiv:

62 Replies to “Neues von Werther: Suizid-Häufung nach breiter Suizid-Berichterstattung”

  1. Interessant. Ich habe den Eindruck, dass das mit der zurückhaltenden Bereichterstattung in Deutschland mittlerweile ganz gut klappt. Zum Beispiel, bei dem kürzlichen Tod eines bekannten US-Schauspielers, habe ich erst nach einer Woche von Freunden, die dailymail lesen, die näheren Umstände erfahren. (Hatte mich aber auch vorher nicht besonders für den Fall interessiert). In den deutschen Medien, die ich regelmäßig lese, musste man schon sehr zwischen den Zeilen lesen.

  2. Leider scheint es keine Möglichkeit zu geben, alle Medien dazu zu bringen, zurückhaltend zu berichten. Gesetze diesbezüglich wird es wohl nie geben, und in vielen Fällen trifft das: „oder sie sie bewusst in Kauf nehmen“ bestimmt zu.

  3. Nur noch mal zu Unterstreichung als Notiz für mich und was Herr Niggemeier auch schreibt: Man muss differenzieren zwischen bloßen Suizid-Meldungen, die ich für legitim halte, und der Dramatisierung dieser zu einer Geschichte.

  4. Ich habe mich zum ersten mal als Zuhörer beim Radio beschwert in diesem Zusammenhang.

    HR-Info, ansonsten eigentlich nicht für boulevardeske Bericherstattung aufgefallen, führte am Tag der Meldung des Todes von Robin Williams ein Interview mit seinem Hollywood-Korrespondenten, wo die Moderatorin im Studio sinngemäß fragte, man wisse ja nun, dass er wohl an […] gestorben sei, ob man denn genaueres über die Methode wisse und ob man denn nun mal gemeinsam spekulieren könnte, was denn nun die Gründe gewesen sein könnten. Ernsthaft. Ich habe die Windschutzscheibe angebrüllt. Sind die nur unwissend und doof oder ist es ihnen wurscht?

  5. @Jens: Klar, das sind eben Fakten, Fakten, Fakten ;-) Was ich meinte wird hier aber deutlich: unter den 70 Überschriften von Focus Online, benutzt nur eine das Wort „Suizid“ und vielleicht aus 5 anderen kann man schließen, dass es sich um einen Selbstmord handelt. Alle anderen Überschriften sind da neutral. Und gerade weil Focus das Thema so zu melken scheint, finde ich es gut, dass sie sich in Bezug auf die Umstände zurückhalten. (Ob das dann in den Artkeln auch so ist, weiß ich nicht, ich habe mich für diese Geschichte wie gesagt nicht weiter interessiert.)

  6. http://www.bildblog.de/59749/bullshit-im-sekundentakt/
    Das beweist mal wieder eindrucksvoll die Tatsache, dass der FOCUS in Sachen billiger Hetze und Schrott-Berichterstattung tatsächlich die BILD überholt hat. Und das will wirklich was heißen, wenn ein selbsternanntes Nachrichtenmagazin noch unseriöser und niveauloser als die ehemals schlimmste Gazettes Deutschlands ist.

  7. Warum sich über die Berichterstattung diverser Aufplustermedien aufregen? Einfach ignorieren. Den Focus les‘ ich noch nicht mal auf dem Lokus. So einfach ist das.

  8. Der zweite Archivlink „Mick Werup“ funktioniert leider nicht, wenn’s geht, würde ich das auch gern noch lesen.

  9. @Peter Hintze: Naja, Dramatisierung und Aufbauschung muss nicht immer gleich mit „Hetze“ und „Schrott-Berichterstattung“ gleichgesetzt werden. Manchmal können das auch gut zusammen recherchierte Informationen und richtigen Fakten sein, Original-Tonband- und Handyaufnahmen, Bilder vom Tatort, gepixelt oder nicht. Das Problem ist dann ein anderes, was im obigen Beitrag ja deutlich wurde, etwa die Verwahrlosung, die mangelnde Distanz, Sensibilität, Demut oder so. Das im beitrag gefallene Stichwort ist „Identifizierung“, Sigmund Freud notierte dazu bereits in den 1920er Jahren was aufschlussreiches, dem sich keiner so eifnach entziehen kann, jedoch behandelt er das in Blick auf seine Patienten, also abgesehen von Medienjournalismus, Zeitung usw.

  10. Vielen Dank für das erneute Aufgreifen dieser sehr ernsten Thematik, Herr Niggemeier.

    Ein Hinweis am Rande:
    Der letzte Link am Ende des Artikels (Mick Werup) führt bei mir nur zu einer Fehlermeldung.

  11. @11

    Einfach den Begriff in die Suchmaske rechts eingeben. Aber vorsicht, die Kommentarspalte ist ein fantastisches Mahnmal an die menschliche Ignoranz.

  12. Wer sich erinnert: Im Fernsehen der DDR liefen nur sehr vereinzelt Kriminalfilme. Heute dagegen wird man damit zugeschüttet. Jetzt kann man sich mal überlegen, was die ständige Präsenz von Verbrechen, insbesondere ausgedachten fiktiven Verbrechen, mit der Wahrnehmung, wie sicher dieses Land ist, anrichtet. Damit behaupte ich nicht, dass Verbrechen dadurch befördert werden, dass sie so medial präsent sind. Das überlasse ich Wissenschaftlern.

    Ich kenne aber einen Haufen Leute, die der Meinung sind, ihre Grundstücke, Häuser oder Wohnung ständig abschließen zu müssen (und zwar zweimal rumdrehen und nicht nur einmal), weil das für ihr Sicherheitsgefühl extrem wichtig ist. (Auch nachts, wenn man selbst in der Wohnung ist.) Man sollte einfach der Statistik trauen: Warum gerade sollten sie in meine Wohnung einbrechen? (Und wenn, dann hilft auch ein gewöhnliches Schloss nicht.)

    Das ist wie mit im Dunklen im Park joggen. Da joggt immer die Angst mit, hinterm nächsten Busch lauert einer. Und obwohl das alle Jubeljahre vorkommt und jeder Vorfall auch breit getreten wird, sollte man einfach mal darauf vertrauen, dass auch heute wieder niemand raubvergewaltigt wird.

    Es gab da mal eine Studie, da sollten Passanten die Anzahl von aus dem Kinderwagen entführten Kindern schätzen. Die Schätzungen lagen um ein Vielfaches über dem realen Wert, weil die Berichterstattung so präsent ist und man das Gefühl hat: das passiert ständig. Dabei sind es wohl etwa 2 Stück pro Jahr… im ganzen Land. Vielleicht auch weniger…

    Die Sicherheitsindustrie freut’s. Verängstigte Kunden bringen gute Gewinne.

  13. Der Link ist korrigiert, danke!

    Und das Problem ist, dass es bei diesem Thema eben nicht nur um sensationsheischende Berichte, Boulevard und sowas geht. Auch die bloße Nennung von Details ist problematisch, auch die große Aufmachung und umfangreiche Berichterstattung an sich kann heikel sein.

  14. @Axel: Niggemeier und andere wollen dann aber sicher nicht so weit gehen und ganz Hollywood abmahnen. Es geht hier um die öffentliche Berichterstattungen in der Presse.

  15. Das sollte aber nicht heißen die mannigfaltigen Ursachen die zum Selbstmord führen können zu unterschlagen. Grade dort ist Offenheit unabdingbar um Suizide zu verhindern. Denn bei solchen unangenehmen Themen versucht man gerne mal was falsch zu verstehen damit man dem schön Ausweichen kann.
    Ansonsten deckt sich der Artikel leider mit meinen Erfahrungen.

  16. @Marco: Das sollten aber dann lieber andere offizielle Stellen tun, aber nicht die Bild, Focus u.a. … oder? Kömmt natürlich wieder auf die Kontextualisierung an oder so.

  17. Denen, die in Frage stellen, ob die hier vorgebrachte Kritik angebracht und nicht nur übertriebene Panikmache ist, kann ich nur den von Herrn Niggemeier bereits verlinkten Artikel „Über Enke und Werther“ ans Herz legen.

    Dieser Artikel ist so detailliert und gut geschrieben, dass ich mich, sobald ich vom Tod Williams‘ gelesen habe, sofort daran erinnert fühlte und auf Mäßigung der Medien hoffte.
    Bereits einen Tag später las ich leider den ersten Artikel, in dem Details zur Ausführung des Suizids beschrieben wurden und mir wurde bewusst, dass man aus dem Fall Enke bei uns leider NICHTS gelernt hat oder es – was noch viel schlimmer wäre – den verantwortlichen Medien einfach sch****egal ist, solange die Auflage stimmt.

  18. Dieser Problematik ließe sich vermutlich prima entgehen, würde die Medien einfach sehr viel häufiger über nicht erfolgreich verlaufende Suizid-Versuche berichten und über die langjährigen Folgen dieser – dann für immer und ewig massiv gesundheitlich beeinträchtigten – Betroffenen.

    In aller Härte und Deutlichkeit.

  19. Vor allem der letztgenannte Punkt (die Suizidmethode und den Ort detailliert zu beschreiben oder abzubilden) wurde auch bei uns intensiv diskutiert, nachdem die amerikanischen Behörden sehr detailliert über den Tod von Robin Williams Auskunft gegeben haben. Ohnehin scheinen dort andere Maßstäbe zu gelten. Auch bei Enke, Sachs und Herrndorf war die Nachahmerquote Thema.

    In dem Zusammenhang spannend finde ich den Aspekt, ob man dann nicht konsequenterweise auch, bzw. gerade die Berichterstattung über terroristische Selbstmordanschläge ähnlich bewerten müsste. Dienen diese doch ganz gezielt als glorifizierendes Propagandainstrument, das eben genau das zum Ziel hat: Immer wieder Nachahmer zu weiteren Taten zu motivieren.

  20. Interessant in diesem Zusammenhang ist vielleicht der Hinweis auf die Serie „Tod eines Schülers“, die vor vielen, vielen Jahren im ZDF lief. Der Artikel bei Wikipedia dazu (https://de.wikipedia.org/wiki/Tod_eines_Sch%C3%BClers) lässt einen fassungslos zurück. Die Serie wurde mit der Goldenen Kamera ausgezeichnet, die Selbstmordquote in der betroffenen Altersgruppe stieg dramatisch, das ZDF ließ gleich zwei Studien erstellen, die keinen Zusammenhang sehen wollten und wiederholte die Serie auch noch mal mit dem selben Ergebnis: gestiegene Selbstmordrate.

  21. @H.-P. Kraus
    Den Fernsehmehrteiler „Tod eines Schülers“ quasi im gleichen Atemzug mit der reisserischen Berichterstattung des Boulevards über Selbstmorde zu nennen, ist ungerecht. Der Film war seinerzeit ein Meilenstein der Fernsehgeschichte. Die Verantwortlichen haben damals den Mut bewiesen, dieses brisante Thema aufzugreifen und der Fernsehnation zuzumuten. Hier im Blog und in den Feuilletons wird den heute Verantwortlichen, gerade der öffentlich-rechtlichen, dieser Mut zu recht abgesprochen.
    Vielleicht kam der Film ein paar Jahre zu früh, aber Visionäre sind der Zeit ja immer ein Stück voraus!

  22. Nachtrag:
    Sie beklagen den „Werther-Effekt“, der nach Ausstrahlung der Serie eingetreten ist. Wieviele Selbstmorde wurden aber durch die Diskussion an Schulen und im Elternhaus über das Thema verhindert? Der negative „Werther-Effekt“ wurde nicht gemessen!

  23. @F. Reichelt: Wenn die Zahl der Selbstmorde nach so einer Serie steigt, dann ist das meiner Meinung nach kein Trost, dass evt. auch Selbstmorde verhindert wurden oder die Serie ein „Meilenstein“ in der Fernsehgeschichte war. Fernsehen auch in öffentlich-rechtlicher Ausprägung ist nicht per se gut. Im Gegenteil: Die negativen Effekte sind ziemlich ausgiebig erforscht.

  24. @Frank Reichelt: Sie haben’s nicht verstanden. Gar nicht.

    Niemand bestreitet, dass „Tod eines Schülers“ in bester Absicht gedreht war. Und trotzdem war die Wirkung eine Negative. Nicht nur reißerische Berichterstattung über Suizide ist gefährlich. Auch bestimmte seriöse fiktionale und nicht-fiktionale Formen der Darstellung sind gefährlich.

    Wenn es einen solchen „negativen“ Werther-Effekt gegeben hätte, dass also im Saldo mehr Suizide durch die Reihe verhindert worden wären als ausgelöst wurden, hätten die Zahlen das ja gezeigt.

  25. In Sachen „Tod eines Schülers“:

    In den Wochen während und nach der Ausstrahlung nahm bei den Jungen, die ungefähr so alt waren wie die fiktive Hauptfigur, die Zahl der Suizide gegenüber dem langjährigen Mittel dramatisch zu. Auch bei der Wiederholung im folgenden Jahr ließ sich noch ein Effekt feststellen:


    (Quelle: aerztezeitung.de)

    „Tod eines Schülers“ zeigte die Vorgeschichte der Selbsttötung sehr realistisch und differenziert aus vielen Perspektiven. Aber gerade, dass der fatale Entschluss des fiktiven Abiturienten Claus Wagner beinahe nachvollziehbar geschildert wurde, erhöhte offensichtlich die gefährliche Wirkung.

  26. @28,29
    Die mittlerweile vorliegenden Erkenntnisse standen dem ZDF 1981 in der fundierten Form nicht zur Verfügung. Man kann (ausgehend von dem Material, dass Herr Niggemeier schon benennt/verlinkt) allerhand über wissenschaftliche Arbeit am Werthereffekt finden, wobei ab 1974 erste Veröffentlichungen zu diesem Thema erfolgten, aber erst Mitte der 80’er mehr und mehr fundierte Auswertungen erfolgten.
    Deswegen ist der Zusammenhang mit dem negativen (m.E. nachgewiesenen) Effekt der ZDF-Serie und der Verantwortung für den Effekt ein ganz anderer als beim heutigen Kenntnisstand.
    Heute ist es möglich, sich über die Konsequenzen einer öffentlichen Darstellung von Suiziden detaillierter zu informieren. Die DSG-Leitlinien sind ziemlich präzise. Sie werden unbekümmert ignoriert. Warum? Weil auch Verantwortung im moralisch-ethischen Bereich delegiert wird und zwar solange bis sich kein Verantwortlicher mehr finden lässt.
    Im Rahmen einer kausalen Kette, ist der letzte Tropfen der das Fass zum Überlaufen bringt insofern unerheblich, als dass er nicht die überragende Ursache für das Überlaufen darstellt. Aber wenn der letzte Tropfen nicht von irgendwoher geregnet kommt? Wenn jemand die Wasserkelle in der Hand hat und willentlich entscheiden kann, damit das Fass zum Überlaufen zu bringen? Mit der Fähigkeit den Schaden des Überlaufens zumindest im Groben einzuschätzen? Derjenige kann sich schlecht aus seiner Verantwortung für das Überlaufen stehlen, egal wie voll das Fass vorher war.
    Darum geht es doch eigentlich, oder?

  27. Leider ist das Wort „Verantwortung“ für viele Journalisten ein Fremdwort. Die meisten wissen, glaube ich, gar nicht, dass es etwas mit ihrem Job zu tun hat. Dann kann man sich ihr auch nicht stellen, wenn man sie komplett negiert.

  28. @Stefan Niggemeier
    Ich streite den „Werther-Effekt“ ja gar nicht ab, wie Sie meinem Nachtrag entnehmen können. Aber hinterher und mit instruktiven Statistiken und Schaubildern bewaffnet ist man immer schlauer. Vielleicht hätte man nach der Ausstrahlung der Folgen eine Diskussion mit Experten und Betroffenen machen müssen, gab es damals wohl nicht.
    Ich wollte nur klarstellen, dass man „Tod eines Schülers“ nicht mit dem auflagegeilen Boulevard in einen Topf (!) werfen sollte.
    Mittlerweile gibt die Serie ja auch mit einem der Thematik entsprechenden Hinweis auf DVD.

  29. […] Ste­fan Nig­ge­meier | Neues von Wert­her: Suizid-Häufung nach brei­ter Suizid-Berichterstattu… — nig­ge­meier berich­tet über eine ame­ri­ka­ni­sche stu­die, die indi­zien für den werther-effekt beob­ach­ten konnte: Selbst­mord ist anste­ckend. Bericht­er­stat­tung über Sui­zide erhöht die Zahl der Sui­zide. Eine neue Stu­die aus den Ver­ei­nig­ten Staa­ten lie­fert wei­tere Indi­zien dafür, dass die­ser soge­nannte „Werther-Effekt“ tat­säch­lich existiert. […]

  30. Ich teile die Kritik an der Suizid-Berichterstattung und die Empörung über die Medien.
    Aber ich habe großes Unbehagen, dass das Eis, auf das man sich hier mit einigen Argumentationswegen begibt, sehr dünn ist. Ich finde ebenfalls, dass man die dramatisierende, sensationsheischende Suizidberichterstattung nicht mit „Tode eines Schülers“ oder auch diversen anderen Medienproduktionen auf eine Stufe stellen sollte. Die Kritik an ersterer ist nicht zuletzt deswegen gerechtfertigt, weil die geforderte (Selbst-)Beschränkung der Rundfunk- und Pressefreiheit hier relativ gering ist und dadurch im Gegenzug Menschleben gerettet werden können. Keinem Medium schadet es substanziell, wenn es auf bestimmte Formen der Berichterstattung verzichtet. Auch dem interessierten Publikum nicht. Und der Demokratie schon gar nicht.
    Für potenziell bedenklich halte ich aber das Muster „es hat (vermutlich) schwerwiegende Konsequenzen, also sollte es verboten werden“. Es ist letztlich immer eine Abwägungsfrage.
    Wäre „Tod eines Schülers“ besser nie gesendet worden? Und Berichte über Suizidalität allgemein? Hätte Goethe seinen „Werther“ besser nicht veröffentlicht? Was ist mit „Club der toten Dichter“? Ich kann mich auch an einen Kölner „Tatort“ erinnern, der vom Selbstmord eines unter Mobbing leidenden Schülers handelte.
    Einmal angefangen lässt sich die Liste quasi unendlich erweitern auf Filme, Videospiele, Berichte, Musik, Karikaturen (z. B. von Mohammed) etc. Auch die Themenpalette erstreckt sich über Gewalt, Abtreibung, Drogenkonsum, Religion, Sexualität und mit diesen verbundene Problematiken.

    Auch Stefan Niggemeier schreibt in seinem Enke-Artikel:

    Wäre es also am besten, wenn Medien gar nicht über Selbstmorde berichten? In den meisten Fällen, wenn es zum Beispiel nicht darum geht, etwa die Missstände in einer Schule aufzudecken, wo sich plötzlich viele Jugendliche das Leben nehmen, lautet die Antwort: Ja.

    Demnach kann es also schon höherrangige Interessen bei der Behandlung von Themen geben. Und das sollte man sich eingestehen und gleichzeitig die Grenze sehr bedacht ziehen. Das würde ich mir unter Verantwortung vorstellen.

  31. @36
    Zwei Sachen zur Frage des „Verbots“:
    Ist der „Werther-Effekt“ ernst zu nehmen? Wenn man sich mit dem Material dazu beschäftigt, auch einmal nachschaut, wie sich der der Dachverband (DSG) definiert, dass unter dem Dachverband verschiedenste Wissenschaftler zum Thema gearbeitet haben, dass sich die Anzahl der Studien seit 1974 bis jetzt immer erweitert hat, aber die Ergebnisse den sogenannten Effekt bestätigen, kann man die Frage nur noch bejahen.
    Und dann kommt man zur zweiten Sache:
    Wie geht man damit um? Aber dazu muss ich die wissenschaftlichen Erhebungen akzeptieren und die Diskussion über deren Richtigkeit nicht mehr für erforderlich halten.
    Solange ich an den Studien zum „Werther-Effekt“ zweifele, die Empfehlungen des DSG ignoriere, solange muss ich mich der Frage nach dem sensiblen Umgang nicht stellen.
    Aber wenn ich mich dieser Frage stelle, komme ich überhaupt erst mal zur Diskussion, in welcher Art über das Thema berichtet wird. Und nach den Ergebnissen der diversen Studien und Arbeiten, muss man realisieren, dass eine nüchterne Nennung von dataillierten Fakten zum Ablauf des Selbstmordes, und eine öffentliche Diskussion zum Pro und Contra, selbst wenn sie auf hohem Niveau und sachlich geführt werden sollte, den gleichen Effekt haben wie reißerische Berichterstattung. Der suizidgefährdete Mensch braucht in der gefährlichsten Phase seiner mentalen Verfassung nur einen kleinen Impuls in die eine oder andere Richtung, auch das ist im Ergebnis der veröffentlichten Arbeiten breiter Konsens. Also spielt es im Hinblick auf die konkrete Auswirkung keine Rolle, ob die öffentliche Auseinandersetzung auf hohem oder niedrigen Niveau geführt wird. Die Leitlinien des DSG kann man mit reißerischer und sachlicher Berichterstattung verletzen.
    Und das muss erst mal realisiert werden. Was offensichtlich schwerfällt.
    Herr Niggemeier hat zu diesem Thema an anderer Stelle eine pointierte Erklärung zu wertrationalem Handeln und zweckrationalem Handeln (Gesinnungsethik, Verantwortungsethik) abgegeben („Über Enke und Werther“). Und natürlich ist dann die Gesinnungsethik irgendwo eine gute Ausrede, um nicht zuzugeben, dass Einschaltqoute, Auflagenhöhe und Klickzahl im Vordergrund stehen.
    Unterdessen geht es nicht um ein Verbot, es geht um Regeln, die bei der Berichterstattung eingehalten werden sollten. Die DSG will das Thema selbst gar nicht totschweigen, die Art, wie darüber geredet wird, ist entscheidend. Man kann bei jemandem wie Robin Williams den Schwerpunkt auf die erbrachten künstlerischen Leistungen legen, wie bei jedem anderen Nachruf auch. Man kann ohne Details zu nennen und ohne irgendwelche wertenden Bemerkungen am Rande den Suizid erwähnen. Man kann sogar versuchen präventiv Hilfestellung zu geben. Wenn man z.B. bei der DSG als Berichterstatter nachfragen würde, welche Informationen aus deren Sicht positive präventive Wirkung hätten, wären die wohl nicht um eine Antwort verlegen.

  32. @ JUB 68, #37

    Was Sie schreiben ist fast alles richtig, geht aber an dem vorbei, was ich in Frage stellen wollte.
    Es ging mir weder darum den „Werther-Effekt“ als solchen, noch die DSG-Leitlinien in Zweifel zu ziehen, sondern das dahinterstehende Prinzip mit gewisser Skepsis zu betrachten.
    Klar wäre es erstmal wünschenswert, wenn einige Medienschaffende überhaupt erstmal so etwas wie Verantwortungsethik an den Tag legen würden. Insofern thematisiere ich hier quasi den übernächsten Schritt, die Bestimmung der Grenzen der Verantwortungsethik. Dies schien mir aber im Hinblick auf die Aussagen zu „Tod eines Schülers“ angebracht.

    Ich glaube nämlich nicht, dass eine (auch erstmal genau zu bestimmende) Verantwortungsethik stets Vorrang vor gesinnungsethischen Gesichtspunkten haben muss, sondern beides miteinander abzuwägen ist. Es greift mir zu kurz, in Gesinnungsethik vor allem „irgendwo eine gute Ausrede“ zu sehen (was sie zweifellos viel zu oft ist).
    Die Gesellschaft nimmt mit der Legalisierung von Alkohol und Tabak jährlich tausende Todesfälle in Kauf. Ebenso tausende Verkehrstote. Nur wegen den betroffenen Lobbys und ihrer Umsätze?
    Zahllose Filme thematisieren in allen möglichen Formen Gewalt, Suizid, Selbstjustiz, Sexismus etc., dokumentarisch und fiktiv. Auch ohne Studie im Einzelfall kann man m. E. davon ausgehen, dass das ganz reale Folgen in der realen Welt nach sich zieht. Streng verantwortungsethisch müsste man vermutlich auf all das verzichten, siehe meine o. g. Beispiele. Findet man aber dennoch, dass Werke wie „Tod eines Schülers“, „Der Club der toten Dichter“ (FSK 12, Standardwerk im Schulunterricht) oder auch „Das fliegende Klassenzimmer“ (wer weiß, wie viele Einzelgänger-Kinder danach als Mutbeweis mit Regenschirm vom Dach gesprungen sind?) weiterhin produziert und gezeigt werden sollten, – wofür gute Gründe sprechen – kann man nicht bei rein verantwortungsethischem „Es wird doch Menschenleben kosten!“ stehen bleiben.

    Und dann stellt sich tatsächlich immer wieder ganz konkret und hart die m. E. entscheidende Frage: Wie viele Tote ist man aus welchen Gründen (außer Einschaltqoute, Auflagenhöhe und Klickzahl) eventuell bereit in Kauf zu nehmen?
    Letztlich entspricht das Ihrer in #36 gestellten zweiten Frage: man weiß oder vermutet stark, dass das eigene Tun schwere reale Konsequenzen nach sich ziehen wird. „Wie geht man damit um?“

  33. @Pepito

    Beim aktuellen Fall kam mir auch direkt das „Jesusbild“ in den Sinn und die Tatsache, dass dieser Film zumindest in RLP in der gymnasialen Mittelstufe und auch – unter anderen Aspekten – wieder im Leistungskurs Deutsch zum Standard zählt.

    Dieser Film als ein herausragendes Werk und der Umstand, dass er nunmal nach wechselhafter Krankheitsgeschichte gestorben ist, gehören zu seiner Biographie als öffentliche Person. Und sind trotz Bedenken und Studien berichtenswert, da thematisch bzw. als Umstand mit seinem Tod verbunden. Und müssen berichtet werden dürfen. Dies gehört ganz klar in den Rahmen der Presse- und Meinungsfreiheit.

    Zurückhaltung ist eine Tugend und sollte von Seiten der Medien hier, aber nicht nur hier, öfters geübt werden. Eine nachrichtliche Einengung geht aber zu weit und argumentativ in dieselbe Leere wie das „Supergrundrecht Sicherheit“.

  34. Also nochmal: Ein Actionfilm hat doch ein ganz anderes Setting als ein Presseerzeugnis in Zeitung, Radio oder Fernsehen. Niggemeier thematisiet hier ja nicht über einen breiten Kulturpessimismus die Verwahrlosung bei Edgar Allen Poe, Peter Jackson oder Marquis de Sade, die künstlerisch umgesetzt sind, sondern die Schwierigkeit der Faktenaufbereitung durch Spiegel, Bild und Co.; es gibt bei den fiktiven Zeugs eine Wahrnehmungs- und Konsumtionsschwelle (Kino, FSK, Kunst- u. Filmgeschichte usw.), während man eine Pressemeldung, egal wie reißerisch oder sachlich, über ein ganz anderen Kontext an Leser und Zuschauer heran getragen wird. Es macht einen Unterschied, auch wenn ein gestörter junger Mann auf die Idee kommt, Eltern und Nachbarschaft im Stil von Freitag den 13. zu ermorden, ist das aber noch einmal ein anderes Thema.

  35. @ Ste, #40
    Dass das Ihr Verständnis des Themas ist, ist schon klar geworden. Und sicher ist „breiter Kulturpessimismus“ und die Wirkung fiktiver Inhalte (eigentlich) nochmal ein anderes Thema.

    Es ist aber nicht so, dass es Stefan Niggemeier und Kommentatoren wie H.-P. Kraus hier nur „um die Schwierigkeit der Faktenaufbereitung durch Spiegel, Bild und Co.“ gehe. Sondern hier wurde explizit die fiktive Reihe „Tod eines Schülers“ wegen ihrer Konsequenzen als vergleichbares Beispiel genannt (H.-P. Kraus, #24, 29). Frank Reichelt musste sich auf seinen Einwand hin, man müsse da schon unterscheiden (#27) von Stefan Niggemeier bescheinigen lassen, er habe es nicht verstanden. Gar nicht (#30). Denn:

    Nicht nur reißerische Berichterstattung über Suizide ist gefährlich. Auch bestimmte seriöse fiktionale und nicht-fiktionale Formen der Darstellung sind gefährlich.

    Es geht hier also durchaus auch um die Aufbereitung und Gestaltung (und Thematisierung?) anderer Inhalte als die in Spiegel, Bild und Co.
    Und deswegen sage ich: ja, auch bestimmte fiktionale und nicht-fiktionale Formen der Darstellung sind gefährlich. Aber sie sind trotzdem sorgsam zu unterscheiden. Und der Weg von einer gerechtfertigten Medien(selbst)beschränkung (wie bei Suizidberichterstattung) zu einer weitgehenden Medienzensur „wegen der drohenden Folgen“ kann vielleicht kürzer sein, als man zunächst glauben mag. Und unterschiedliche Dinge in einen Topf zu werfen kann da ein erster Schritt sein.

  36. @Ste (nur, falls sich Sie Ihre Aussage auf Pepito oder mich bezieht)

    Sie kämpfen gegen Windmühlen. Es ging doch weder um Actionfilme noch deren Thematisierung durch Stefan Niggemeier. N. thematisiert aber sehr wohl das dramatische Gebäude eines Filmes, das in Sachen Rechtfertigung vom „Jesusbild“ in Der Club der toten Dichter nicht weit entfernt ist.

    Dazu treffen N. und ich eine anscheinend deutlich unterschiedliche Güterabwägung. Aber nochmal: Bei den sonstigen Nachrichten sind wir eng beeinander.

  37. Ja eben, die Unterscheidung ist zu unterscheiden. Alles kann gefährlich werden, der Weg zur Arbeit mit dem Auto oder zu Fuß oder der Gang ins Bad. Aber dennoch sollte hier nicht der Diskurs zur öffentlichen Berichterstattung so gedreht werden, dass der Weg von Freddy Krüger zum Spiegel so einfach und schlüssig ist. Der Einwurf mit den Episoden-Film mit Dokumentarischem Ansatz kam irgendwann von HPKraus in den Kommentaren auf, meiner Meinung ist das nochmals anders zu werten als das was im Hauptbeitrag thematisiert wird, sogar noch einmal anders als zu einem Kino-Blockbuster ohne Realitätscheck zwischen der Filmdramaturgie.

  38. @pepito #38
    Generell, auf jeden Lebenskonflikt bezogen, haben wir immer neu zu entscheiden, ob wir wertrational oder zweckrational handeln. Da habe ich keinen Vorzug eingeräumt. Bei medialer Berichterstattung zum Thema Selbstmord sollte man aber im Rahmen der Abwägung zweckrationale Entscheidungen favorisieren.
    Jetzt sind wir aber von medialer Berichterstattung schon zur künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Thema Selbstmord gekommen. Und da können die Leitlinien der DGS, die für mediale Berichterstattung geschaffen wurden, bestenfalls eine Art Orientierungshilfe sein. Und wenn man sie in einer Diskussion über das Thema als Orientierungshilfe heranzieht, dann sehe ich kein Problem beim „Club der toten Dichter“. Der Selbstmord dient im Rahmen der Handlung für die Zuspitzung des Konflikts. Er wird weder detailliert dargestellt, er wird nicht als Erlösung glorifiziert, er wird nicht als einziger Ausweg aus dem Dilemma in Szene gesetzt. Die Botschaft des Filmes zeigt eher, dass das nicht hätte sein müssen. Damit so etwas nicht passiert, muss die Zerstörung der Individualität und die Uniformierung des Geistes durch eigenes Gedankengut, den Glauben an sich selbst und den Mut zum Leben bekämpft werden. Der Verfechter der Sache verliert scheinbar, indem er seine Stelle als Lehrer aufgeben muss, aber seine Mühen waren nicht umsonst, er hinterlässt etwas in den Köpfen der jungen Leute, was in der letzten Szene demonstriert wird, das bleibt dann auch hängen. Insofern gibt es bei diesen Film keinen Konflikt, wenn man die DGS-Richtlinien als Orientierungshilfe heranzieht.
    Beim „Tod eines Schülers“ verhält es sich anders, wenn man die DGS-Richtlinien mit der Darstellung des Selbstmordes vergleicht (zum Effekt siehe auch nochmal #30).
    Trotzdem würde ich persönlich nicht fordern, dass deswegen Kunstverbote oder Zensur das Mittel der Wahl wären, aber die Form der Aufführung wäre zu diskutieren. Nicht umsonst hat man über zwanzig Jahre mit der Frage zum DVD-Release gerungen. Meine Bildungslücke zum „Jesuskind“ werde ich wohl mal schließen müssen.
    Aber man muss (und das wollte ich mit meinem letzten Beitrag verdeutlichen) wohl akzeptieren, dass Qualität und Schund eventuell im Einzelfall den gleichen Effekt haben. Und damit wird „Tod eines Schülers“ nicht mit irgendwelchem Schund in einen Topf geworfen. Es wird aber bei allen Unterschieden eine Gemeinsamkeit gesehen, die infolge ihrer Auswirkung beachtenswert ist.

    Ihre anderen Vergleiche hinken aus meiner Sicht vor allem wegen einer Tatsache:
    Der suizidgefährdete Mensch in der akuten Phase der Gefahr ist für äußere Reize in einer Art vulnerabel, die an Entmündigung grenzt. Er ist wenig bis gar nicht selbstbestimmt . Er ist im freien Willen eingeschränkt, wenn dieser nicht sogar zeitweise völlig aufgehoben ist.
    Das alles trifft auf den Konsumenten von Tabak und Alkohol oder auf Verkehrsteilnehmer nicht zu.

  39. Vielleicht könnte man mal, in längeren Berichten, etwas über die Folgen so eines plötzlichen Todes für die Familie und den Freundeskreis erzählen? Diese sind oft ein Leben lang nachhaltig spürbar. Gerade gefährdete junge Menschen in der Pubertät denken daran oft gar nicht und handeln unüberlegt im Affekt. Das haben jedenfalls Überlebende eines Suizidversuches in entsprechenden Foren berichtet.

    Das Thema kommt heute inflationär und damit letztlich fast wie etwas normales vor – in der Krimiserie, bei Mitarbeitern wegen Unternehmenskultur und -bedingungen, dazu ab und an ein gemobbter Teenie via Internet. Und die Sterbehilfefälle plus erkrankte Promis. Da sich deren Angehörige danach oft weltweit über die Medien äußern wie jetzt die Witwe von Robin Williams, kann ein individueller, aber untypischer Eindruck entstehen. Der dann hängen bleibt. So gelassen und wie seelisch fast bereits darauf vorbereitet, reagieren viele Familienangehörige nicht! Das sollten Menschen, die einen Suizid erwägen, vielleicht wissen?? Viele haben es sonst kaum im Fokus. Das Ausmaß an Schmerz, das sie auslösen, ist ihnen zu wenig bewusst.

    Noch etwas zu einer aktuellen Gerichtsverhandlung: weshalb in dem Kannibalismus-Fall (entweder einer vermutlichen Tötung auf Verlangen oder doch selbst durchgeführt) erst lang und breit von der armen verstörten minderjährigen Tochter des Opfers geredet wird… und dann zwei Minuten lang sehr konkret genannte Details seiner Todesart vom Anwalt beschrieben und im Fernsehen gesendet werden… entzieht sich meinen Verständnis. Man mag hoffen, dass sie ihr nicht eines Tages von jemand erzählt werden, obwohl sie sie vielleicht gar nicht erfahren möchte.

  40. @ JUB 68, #45
    Ich glaube, wir sind uns da im Wesentlichen einig.
    Ich finde „Der Club der toten Dichter“ ist ein gutes, prominentes Beispiel, weil sich die Schwierigkeit der Problematik hieran gut verdeutlichen lässt (dass Robin Williams in dem Film mitgespielt hat ist da eher trauriger Zufall). Ihre Interpretation der Darstellung ist sicher eine der möglichen, aber man kann es auch mit guten Gründen anders sehen, z. B. in wie weit in dem Film tatsächlich andere Auswege aus dem Dilemma für den jungen Suizidenten, auf den es ja maßgeblich ankommt, aufgezeigt werden. Mit dem „Jesusbild“ meint Vonfernseher vermutlich die Darstellung des Selbstmörders (wenn mich da meine Erinnerung jetzt nicht täuscht) mit nacktem Oberkörper und einer an einen Dornenkranz erinnernde Blätterkrone auf dem Kopf.

    (Nicht nur) in dem Zusammenhang lesenswert ist eine Abschlussarbeit des Schweizer Filmemachers Filippo Lubiato von 1997 mit dem Titel ‚Suizid und der Suizid in den Medien‘, auf die ich gerade gestoßen bin. Dort wird neben diversen anderen Beispielen (S. 28 ff.) auch dieser Film erwähnt (S. 32):
    „Bei der Diskussion, ob Film ein geeignetes Medium für die Suizidprophylaxe bei Jugendlichen sei, wies der Experte der SKGS, Prof.Dr. Walter Pöldinger, darauf hin, wie schwierig es sei, einen Film zum Thema Suizid zu realisieren, und erwähnte in diesem Zusammenhang einen Fall aus seiner Praxis: Ein von ihm behandelter Patient habe den letzten Anstoss zu einem Suizidversuch vom Film „Club der toten Dichter“ (Dead Poets Society, USA 1989, Regie: Peter Weir) erhalten. […]
    Prof.Dr. Walter Pöldinger wies darauf hin, dass der Grund für den Suizidversuch seines Patienten nicht das Opfer und dessen Motiv gewesen seien, sondern die Darstellung der tiefen Betroffenheit des Umfeldes (Eltern, Mitschüler, Lehrer, etc.).“

    Übrigens hatte 2010 auch das SZ-Magazin (nach Lektüre von Stefan Niggemeiers Blogeintrag) über Enke und den Werther-Effekt berichtet: http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/32718/1/1

  41. Die Diskussion dreht sich mal wieder im Kreis.
    Ich kann nur nochmals die Lektüre des Artikels „Von Enke und Werther“ empfehlen, Link siehe oben.
    Da wird noch wesentlich ausführlicher erläutert, warum auch fiktive Geschichten wie „Tod eines Schülers“ problematisch sind.
    Dort wurde auch bereits eine Diskussion mit 300 Kommentaren geführt.

  42. @50: Ja, aber es ist für einige wohl noch nicht ganz klar, was der Unterschied zwischen z.B. „Club der toten Dichter“ und „Tod eines Schülers“ ist. Beide sind problematisch, aber dennoch würde ich „Club der toten Dichter“ eben nicht unter Vorbehalt oder gar nicht in die Kinos bringen, „Tod eines Schülers“ würde ich zumindest für sehr kritisch sehen. Es geht um die Dramaturgie, den Aufbau, das Ziel, die Geshcichte, das Motiv, die Form, die eben eine dokumentarische ist, während ersteres ganz klar eine künstlerische Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Themen ist.

  43. […] Im Film sprechen wir mit Jana auch kurz über die Selbstmordgefahr bei Borderlinern. Ein wichtiges, aber auch schwieriges Thema. Nicht nur, weil es beklemmend ist, darüber zu sprechen, sondern auch, weil Journalisten bei der Berichterstattung über Suizide sehr vorsichtig sein müssen, bzw. unserer Meinung nach sein sollten. Denn es gibt den sogenannten “Werther-Effekt”: Berichte über Selbstmorde führen häufig zu Nachahmungen. Wir haben uns deshalb bei der Berichterstattung an den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention orientiert. Wer sich dafür interessiert, dem empfehlen wir diesen Artikel von Stefan Niggemeier. […]

  44. @ Stefan Niggemeier
    Mein Kommentar von Samstag (#48) wartet noch auf Freigabe. Sind die Links irgendwie problematisch?

  45. @pepito: Sie schreiben: „man kann es auch …. anders sehen“. Ich denke Sie meinen: „Ich sehe es anders“. Das ist das Problem: Sie argumentieren von Ihrer subjektiven Einschätzung, ihrer eigenen Perspektive aus. Das ist Ihr gutes Recht, aber es hilft dabei nicht, etwa an oder in Redaktionen oder Produktionen Empfehlungen zu geben, wie sie damit umgehen können. Normalerweise macht man Umfragen, um zu einem irgendwie objektivierbaren Ergebnis zu kommen oder man versucht aus einer Metaposition heraus zu differenzieren, um dann eine nahezu allgemeingültige Entscheidung zu treffen, in der Phänomenologie hilft dabei Husserls „eidetische Reduktion“.
    Ich sehe auch nicht wie Ihre Zitate bei so einer durchaus schwierigen Einordnung helfen können, denn in dem Zitat wird überhaupt nicht differenziert: Kontext, Form, Ziel, Thema usw.; ich sehe weiterhin keinen Grund „Club der toten Dichter“ kritisch als so suizid-gefährdend einzustufen, nur weil in einer empirischen Studie von irgendein Patient berichtet wird, vor allem weil dieser Patient wohl von einem „letzten Anstoß“ spricht, also muss ja schon vorher enorm viel passiert sein.

  46. @ Ste
    Hmm, ich versuche nun erstmal herauszufiltern, worin Sie mir eigentlich in der Sache widersprechen. Mir scheint, hier herrscht weitgehend Einigkeit, dass verschiedene Darstellungen der Suizidthematik, sei es berichtend, dokumentarisch oder fiktional, prinzipiell problematisch sind, unabhängig von ihrer „Qualität“ oder der dahinterstehenden Absicht. Gleichzeitig scheint Konsens zu sein, dass es starke Unterschiede zwischen diesen Darstellungsformen generell und innerhalb ihrer konkreten Umsetzungen gibt, die bei der Frage, was im Hinblick auf eine jeweils immer vorhandene Nachahmungsgefahr noch vertretbar ist, berücksichtigt werden müssen.

    Da kommen nun Leitlinien wie die der DGS für die Suizidberichterstattung ins Spiel. Die sind sicher gut und als Orientierung sehr hilfreich.

    Mein Punkt sollte nun sein, dass solche Leitlinien (bzw. ihre entsprechende Anwendung auf fiktionale Formate) auch nicht unbegrenzt weiterhelfen. Das Beispiel von „Der Club der toten Dichter“ habe ich nicht nochmals aufgegriffen, weil ich der Meinung wäre, dass es in irgendeiner Form verboten werden müsste (wie vermutlich niemand hier) oder genau so problematisch wäre wie „Tod eines Schülers“. Ich wollte vielmehr im Hinblick auf die Leitlinien darlegen, dass die Beurteilung, ob die Darstellung diesen gerecht wird, sehr zwiespältig sein kann. Es geht dabei gar nicht um meine Interpretation (ich habe das schon so geschrieben, wie ich es meinte) oder die von JUB 68, oder Ihre, sondern schlicht um die Tatsache, dass so eine Beurteilung fast immer subjektiv und eine Gratwanderung ist. Meine Einschätzung ist da auch nicht subjektiver als die eines jeden Autors, Regisseurs, Produzenten, Kinobetreibers, Senderbetreibers oder Politikers, der entscheiden soll, ob z. B. eine Darstellung wie in diesem Film den Suizid einer Identifikationsfigur als „nachvollziehbar“ oder „alternativlos“ darstellt. Wie würden Sie den Ausgang einer Abstimmung darüber von 20 neutralen Personen abschätzen? Bei welchem Ergebnis könnte man von Unbedenklichkeit ausgehen? Und welche Rolle spielt das überhaupt, solange trotzdem noch einzelne, psychisch labile Zuschauer eines solchen Films diesen „als letzten Anstoß nehmen“ – sich mithin der Preis dieser noch so besonnenen, rein fiktionalen Darstellung immer noch „in Menschenleben“ darstellen lässt?
    Natürlich können Sie einwenden, „irgendein“ einzelner Patient sei nicht repräsentativ und es müsse für die Suizidalität „ja schon vorher enorm viel passiert sein“. Letzteres ist aber bei allen Suiziden, inklusive aller den Werther-Effekt begründenden der Fall, ersteres führt wiederum nur zu der Frage, wie viele Einzelbeispiele denn in Kauf zu nehmen seien.

    In wie weit das alles jetzt hilfreich ist? Sicher nicht insofern, als es die Komplexität des Dilemmas im Sinne klarer, „objektiver“ Handlungsmaßstäbe reduzieren würde, im Gegenteil. Das in #48 gebrachte Zitat deutet mir eher darauf hin, dass eine gänzlich unbedenkliche Darstellung der Thematik nicht zu leisten ist, wenn etwa schon eine „Darstellung der tiefen Betroffenheit des Umfeldes (Eltern, Mitschüler, Lehrer, etc.)“ als „letzter Anstoß“ ausreichen kann. Und dann bedarf es über Leitlinien und sonstige „handwerkliche“ Ratschläge hinausgehender Überlegungen, auch in Richtung „Gesinnungsethik“. In dieser Richtung soll das Zitat „helfen“, als Bestimmung der Schwierigkeiten und Grenzen einer „reinen“ Verantwortungsethik. Lösen kann ich das Dilemma damit natürlich auch nicht. Das war aber auch nie der Anspruch, von niemandem hier.

  47. @ oasenhoheit, #51
    Ich habe sowohl den „Von Enke und Werther“-Artikel gelesen, als auch einige der Kommentare dort (wenn auch nicht alle 300…). Sehr gut fand ich dort auch den klarstellenden Kommentar von Stefan Niggemeier unter #98.

    Stimmt schon, einiges wiederholt sich dort schon und hier nochmals. Aber vielleicht ergeben sich hier ja trotzdem nochmal interessante Ideen, Anregungen etc., vor allem bei allen, die 2009 noch nicht beteiligt waren und lieber hier nochmal eine Neuauflage mitverfolgen und -gestalten wollen als die 300 Kommentare von damals zu lesen. Und es ist vielleicht ein bisschen viel verlangt, vor einem Kommentar erstmal zu recherchieren, ob etwas so oder so ähnlich schon mal vor fünf Jahren geschrieben worden ist. Aber ich bin auch so zuversichtlich, dass es dieses Mal deutlich weniger Beiträge werden.

  48. Bei mir kam es jedoch so an, als würde Ihr Ergebnis lauten: „Club der toten Dichter“ und „Tod eines Schülers“ sind gleich zu werten, daher lieber nicht zeigen. Und gleichzeitig, so meine Erinnerung, meinten Sie weiter oben: Hm, dann müsste ja alles irgendwie verboten werden. Ich sage schlicht und einfach: Nein, im Blick auf diese beiden Beispiele, muss und kann man durchaus gut differenzieren, auch ohne umständlichen Ethik-Diskurs. That’s all.

  49. Der Werther-Effekt gilt vermutlich auch für Berichte über Hochzeiten und Geburten. Trotzdem würden wir nicht behaupten, dass jemand, der heiratet oder ein Kind bekommt, eine unfreie Entscheidung trifft und von den Medien „getrieben“ wird. Dass über den Freitod anders gedacht wird, liegt nur an dem gesellschaftlichen Vorurteil, wonach der Suizid immer eine krankhafte Fehlentscheidung ist. Würden wir einsehen, dass der Freitod eine begründete und vernünftige Handlung sein kann, dann könnten wir den Werther-Effekt auch so beschreiben, dass Menschen, die ein schlechtes Leben führen, sich durch mediale Vorbilder zu diesem Schritt inspirieren oder ermutigen lassen.

    Ich halte jedenfalls nichts von einer Suizid-Prävention, die zum Weiterleben nötigt und davon ausgeht, dass das Leben unter allen Umständen erhaltenswert ist. Und wenn Journalisten untersagt wird, über den Freitod als nachvollziehbare Handlung zu schreiben – obwohl viele Suizide genau das sind – dann hat das mit Meinungs- und Pressefreiheit herzlich wenig zu tun.

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