„Spiegel“-Leser wissen mehr — es tritt bloß vieles davon nicht ein

Wenn ich mich recht erinnere, steht unten im neuen „Spiegel“-Haus an einer Wand das alte Motto von Rudolf Augstein: „Sagen, was ist.“ Kann mal jemand nachsehen, ob die Buchstaben inzwischen abgeknibbelt wurden und dort als Leitmotiv des Nachrichtenmagazins stattdessen zu lesen ist: „Sagen, was eventuell sein könnte, falls nichts anderes dazwischenkommt“?

Gestern wurden endlich die Namen der Mitglieder des neuen Bundeskabinetts bekannt gegeben. Das ist vor allem insofern erfreulich, als damit Monate der Spekulation in den Medien enden, wer welchen Posten kriegen wird. Wobei es das Wort „Spekulation“ im Fall des „Spiegel“ nicht trifft. Er hat seine Mutmaßungen gerne als Tatsachen formuliert. Erst vor zwei Wochen zum Beispiel schrieb er kurz, unmissverständlich und, wie wir heute wissen, falsch:

Wolfgang Schäuble bleibt Finanzminister, Thomas de Maizière Verteidigungsminister.

Solche Sätze werden später nicht ausdrücklich im Heft korrigiert. Vermutlich, um nicht unnötig Zweifel an der Prognosefähigkeit der Redaktion zu säen und im Publikum nicht die Frage zu wecken, ob im Haus qualifizierende Worte wie „vielleicht“, „womöglich“ und „nach heutigem Stand“, Modalverben oder gar der Konjunktiv unbekannt sind. Und vermutlich auch, weil man neben all den als Tatsachen verkauften Prognosen, die man nachträglich zurücknehmen müsste, kaum noch Platz für neue Fehlprognosen Nachrichten hätte.

Der Text vor zwei Wochen ging weiter:

Peter Altmaier würde das Umweltressort zähneknirschend auch dann behalten, wenn die Zuständigkeit für die Energiewende komplett an einen Superminister Gabriel geht.

Weil Kristina Schröder und Ilse Aigner ausscheiden, darf Johanna Wanka (Bildung) als gesetzt gelten. Das gilt natürlich auch für Arbeitsministerin Ursula von der Leyen, wenngleich die sich noch sträubt, das Gesundheitsressort zu übernehmen.

Interessantes „noch“ — als wisse der „Spiegel“-Redakteur im Gegensatz zu der Ministerin schon, dass das Sträuben natürlich am Ende fruchtlos bleiben werde.

Vergleichsweise übersichtlich ist die Lage in der CSU. Seehofer hat drei Ministerien verlangt und bekommen. Die Ressorts Innen, Verkehr und Landwirtschaft werden auf Hans-Peter Friedrich, Peter Ramsauer und Aufsteiger Alexander Dobrindt verteilt.

Tjaha, vergleichsweise übersichtlich und trotz des unmissverständlichen Indikativs „werden“ dann gleich mehrfach falsch, wie wir heute wissen.

Am 14. Oktober hatte der „Spiegel“ als ebenso unumstößliche Tatsache formuliert:

Innenminister Hans-Peter Friedrich zum Beispiel ist gesetzt, das gilt auch für Verteidigungsminister Thomas de Maizière.

Da das schon nicht stimmte, zweifle ich nun auch an einer weiteren Tatsache, die der „Spiegel“ im selben Text behauptete:

Erst die Inhalte, dann das Personal? Dieser Satz wird zwar in diesen Tagen oft gesagt, er ist aber — wie bei jeder Koalitionsverhandlung — falsch.

Ja, komisch. Dabei ist die aktuelle Erklärungsstrategie der Medien für die diversen (für sie) überraschenden Personalien, dass da in letzter Minute noch Entscheidungen getroffen wurden.

Über Ursula von der Leyen, die jetzt, nach der Bekanntgabe, dass sie Verteidigungsministerin wird, von „Spiegel Online“ als ewige Gewinnerin gewürdigt wird, erschien am 11. November ein Stück im „Spiegel“ mit der Überschrift: „Frau ohne Trümpfe“. Das ist angeblich eine Formulierung, die die „Feinde“ von der Leyens, wer auch immer das sein mag, „gar nicht so leise zischeln“, wie auch immer sich das anhören mag. Der Artikel behandelte scheinbar besorgt die Frage: „(…) was, wenn Merkel ihr einfach keinen Posten anbieten kann, der den unaufhaltsamen Aufstieg der ehrgeizigen Politikertochter fortsetzen würde?“

Das Außenamt könne sie nicht kriegen, weil es an die SPD gehe; das Gesundheitsressort wolle sie nicht: „So macht in der Berliner Regierung die Idee die Runde, von der Leyen könnte notfalls als EU-Kommissarin nach Brüssel wechseln.“ Eine andere Möglichkeit fiel den „Spiegel“-Experten nicht ein.

Aber warum konnte von der Leyen nicht Außenministerin werden? Weil die SPD unbedingt dieses Amt haben wollte. Was für Menschen, die schon zwei Wochen zuvor den „Spiegel“ gelesen hatten, ein bisschen überraschend kam. Damals beschrieb das Blatt das scheinbare Problem, dass aus dem angeblich früher prestigeträchtigsten Ministerposten ein Job geworden sei, vor dem sich alle drücken: „Das Auswärtige Amt liegt auf dem Grabbeltisch der Koalitionsverhandlungen. Es ist zur Ramschware verkommen.“

Die beiden Politiker, die „am besten für das Amt des Außenministers gerüstet wären“, erklärte der „Spiegel“, „wollen es nicht haben“: Wolfgang Schäuble und Frank-Walter Steinmeier. Ach. Nicht?

Der „Spiegel“ damals weiter:

Rettung verheißt allein eine Frau: Ursula von der Leyen ist das einzige prominente Kabinettsmitglied, dem Ambitionen auf das Außenministerium nachgesagt werden. Auch für sie wäre das Ministerium nur eine Zwischenstation. Die CDU-Politikerin will sich international profilieren, um ihre Chancen zu erhöhen, dereinst die Kanzlerin zu beerben.

Ah. Nun. Dann muss jetzt wohl das Verteidigungsministerium für die Ministerin nur eine Zwischenstation sein, um sich international zu profilieren, um „dereinst“ die Kanzlerin zu beerben. Irgendwas an der Geschichte wird schon stimmen, und überhaupt kann man es ja nicht dem „Spiegel“ vorwerfen, wenn die Politiker sich nicht an das halten, was er ihnen vor-geschrieben hat.

28 Replies to “„Spiegel“-Leser wissen mehr — es tritt bloß vieles davon nicht ein”

  1. also, ich muss ja sagen, wenn ich im wartezimmer den SPIEGEL lese, fühle ich mich von solchen unumstößlichen indikativen immer wahnsinnig informiert. mit dem sicheren gefühl des wissensvorsprungs verlasse ich dann den arzt / die ärztin meines vertrauens, erhobenes haupt, geschwellte brust. und das beste: bevor sich rausstellt, dass alles schmonsens ist, hab ich die konkret versprochenen inhalte schon wieder vergessen.

  2. Spekulieren macht großen Spaß. Da konnte ich in meinem Blog auch nicht widerstehen. Aber sowas als Tatsachen zu verkaufen ist perfide, suggeriert es doch, der „Spiegel“ hätte Zugang zu Informationen/zur Macht, die andere nicht haben. Danke für die Dokumentation!

  3. Inhaltlich freut mich der Kommentar. Nur bin ich direkt über die Formulierung des Titels gestolpert: „es trifft … nicht ein“ das klingt in meinen Ohren so schief am Montagmorgen. Vorschläge: „Trifft nicht zu“ oder „tritt nicht ein“. Oder habe ich die Lyrik nicht verstanden? Das ist mein Beitrag an Korinthen für heute.

  4. Und noch ein Flüchtigkeitsfehler: Sie haben bei »Spiegel«-Experten die Anführungszeichen falsch gesetzt. Korrekt wäre Spiegel-»Experten«.

    (Nichts zu danken.)

  5. Um den Spiegel mal in Schutz zu nehmen: Offensichtlich wurden die Ministerien, inklusive der Staatssekretäre ausgewürfelt. Da kann sich schon mal was ändern.

  6. ist diese verherrlichung von von von der leier eigentlich schon der einfluss dieses gewechselten springer-horst? oder sowieso typisch SPEIGEL?

  7. Nicht zu Vergessen: eine Titelgeschichte vor 2 Wochen mit der Progonose, dass Sigmar Gabriel mit dem Mitgliedervotum scheitern wird.

  8. Oder die gefühlten zwanzig Vorhersagen, bei den und den Konstellationen wäre entweder Rösler bzw. Schwarz-Gelb nicht mehr zu halten.

  9. Nur ein Gedanke: Vielleicht schadet die Offenlegung nicht, dass Sie kurze Zeit Spiegel-Autor waren. Ansonsten danke für diesen Beitrag, ist mir auch schon gelegentlich sauer aufgestoßen, wie manche Medien Mutmaßungen als Fakten ausgeben.

  10. Und auf Facebook und Twitter wissen die User jetzt schon, dass alles ganz furchtbar wird. Auf diesem Niveau ist der Glaskugeljournalismus à la Spiegel (aber nicht nur Spiegel) eben inzwischen angekommen.

  11. Ach, war das noch schön, als wir in diesem Blog solche Schauergeschichten nur über die Yellowpress, die Bildzeitung oder das Privatfernsehen gelesen haben! So langsam erschrecke ich wirklich über den Zustand des deutschen Journalismus. Aber immerhin gibt es noch den einen oder anderen, der es bemerkt!

  12. Ja, Gregor, ich weiß auch schon, dass es ganz schlimm werden wird: wie sonst soll es werden mit diesen beiden kapitalhörigen Parteien an der zahlenmäßig dermaßen mächtigen Macht?

  13. Ich glaub, es ist mit den Fehlprognosen viel schlimmer geworden (übrigens auch auch mit der „Skandalisierung“) seit Blome das
    Hauptstadtbüro leitet. Nur mal bei SpOn die entsprechenden Beiträge (Blome + noch irgendeiner) raussuchen.

  14. Es ist ja nicht so, dass Spiegel und Co, also Bild und der Rest der ruchlosen Scheiber. Es gerne hätten wenn ihre Prognosen auch so einträfen. Denn dann hätten sie auch etwas zu sagen, wie die anderen Lobbypenner, die in Berlin und Brüssel ein und ausgehen.
    Zwar glaube ich nicht an die Leyen als Verteidigungsministerin (hatte echt Lachkrämpfe) aber die Geschichte könnte mich auch Lügen strafen.

    Im Fazit: Ist der Spiegel, die Bild und was immer noch so versucht etwas deutlich zu machen, wie Das Handelsblatt oder die Wirtschaftswoche. Es sind Phrasen, die man ganz genau lesen und gleichzeitig wieder ignorieren muss, weil hier ein geistiger Samenerguss den nächsten trifft.

  15. Einfach über den Spiegel in Zukunft nur noch in TopfvollGold berichten.

    Für mich ist das einzige noch nicht kaputte Print „Stiftung Warentest“. Aber bitte nicht dem Blome verraten.

  16. @7: Sicher kann sich etwas ändern, und vielleicht würfeln die das Kabinett ja wirklich aus oder spielen Reise nach Jerusalem oder was weiß ich. Genau deswegen würde es sich ja aber empfehlen, die Kabinettsbildung den politischen Hinterzimmer-Vorgang sein zu lassen, der er ist, und nicht jedes Gerücht, das durch die Hauptstadtblase blubbert, zur Quasi-Faktenmeldung aufzublasen.
    Letztlich gefällt sich die Polit-Journaille da ja nur in einer abgeklärten Insider- und Analysten-Pose, die aber auch schon wieder an ihr Ende kommt, sobald mal ein weniger prominenter Name auf der Ministerliste auftaucht. Da blöken sie dann plötzlich ihre (wahrscheinlich sogar echte) Überraschung in die Schlagzeilen, weil: Achgott achgott, diese Personalie konnte ja nun keiner auf der Rechnung haben! (Außer den regierungsbildenden Parteien offensichtlich, aber wen interessiert das schon.)

  17. Danke, Herr Niggemeier, für die minutiöse Dokumentation! Leider beschränken sich vollmundige Spekulationen, die sich hinterher als falsch erweisen, nicht auf den Spiegel und Personalfragen. Ich hatte mich in einem Kommentar 2010 für eine Plattform oder Rubrik ausgesprochen, in der Medien selbstkritisch ihre Thesen mit der Realität abgleichen:
    http://www.cicero.de/geplatzte-schreckensszenarien/41228
    Das würde die Glaubwürdigkeit von uns Journalisten erhöhen und bei vielen Lesern auf Interesse stoßen, aber zur Umsetzung dieser Idee dürfte vielen Medien der Mumm fehlen.

  18. […] 1. Stefan Niggemeier hat sehr schön zusammengestellt, wie so der Unterschied zwischen sich nach Hollywood-Politthriller sehnenden Medienwirklichkeit und dem, was sich wirklich in Berlin abspielt, aussieht und was er für Stilblüten treibt. Titel heute: “Die haben doch die Ministerien eh schon alle festgelegt und wir wissen auch schon alles!&#822… […]

  19. „Über Ursula von der Leyen, die jetzt, nach der Bekanntgabe, dass sie Verteidigungsministerin wird, von »Spiegel Online« als ewige Gewinnern gewürdigt wird“

    –> GewinnerIn, da fehlt ein I.

    Rechtschreibfehler anmerken, was man an Weihnachten nicht alles tut.

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