Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Wie sehen moderne deutsche Fernsehserien aus, die das Publikum nicht unterschätzen? Die Sender probieren das jetzt einmal aus.
Frank ist ein Verlierer. Der einzige Lichtblick ist der Scheck vom Amt. Seine Frau ist vor drei Jahren verschwunden: spurlos, aber nicht grundlos. Mit seinen sechs Kindern lebt er in einer engen Sozialwohnung — wobei es leben nicht ganz trifft. Sie ist der Ort, an dem ihn die Kinder auf dem Fußboden in die stabile Seitenlage bringen, wenn die Polizei ihn von der Kneipe geholt hat. Es ist eine Welt voller Müll und Drogen, unbezahlten Rechnungen und Kleinkriminalität. Und die Fernsehserie, die die Geschichten dieser gleichermaßen kaputten wie unzerstörbaren Familie erzählt, ist auf eine Art warmherzig und sentimental, kraß und komisch, originell und authentisch, provokativ und versöhnlich, daß es einem den Atem raubt.
Die Serie heißt „Shameless“ und läuft im britischen Channel 4. Bis das deutsche Fernsehen solche Serien hervorbringt, ist es noch ein weiter Weg. Aber immerhin scheint es sich gerade mal in die richtige Richtung zu bewegen.
Was natürlich daran liegt, daß die anderen Wege sich als Sackgasse herausgestellt haben. Programmmacher wie die stellvertretende Sat.1-Chefin Alicia Remirez sprechen offen von einer „Krise“ der deutschen Serie. Die schnell zusammengeklöppelten Varianten amerikanischer Formate versagten, die endlos ratternde Erfolgskopiermaschine machte das Publikum müde und satt, die Erfolgsserien von gestern haben ihre besten Zeiten meist hinter sich.
Diese Krise ist ein Glücksfall für das Publikum (das sie ja überhaupt erst ausgelöst hat), insbesondere, seit die Massenbegeisterung vor allem junger Zuschauer für „C.S.I.“ oder „Desperate Housewives“ zeigt, daß sie keineswegs der fiktionalen Serie an sich müde sind – nur ihrer traurigen, anspruchslosen deutschen Erscheinungsform.
„Das ist der beste Zeitpunkt, eine moderne Serie zu machen“, sagt Remirez. „Es hatte nicht die Lust und den Mut gegeben, neue Serien anzugehen.“ Inzwischen würde aber viel mehr Mut dazugehören, das weiterzuführen, was nur mittelmäßig gelaufen ist. Der Begriff „Qualität“ taucht plötzlich wieder in Gesprächen mit Privatfernsehleuten auf — und anscheinend nicht nur als PR-Floskel, sondern als Synonym dafür, gute Drehbuchautoren zu beschäftigen, sich Zeit zu nehmen, Figuren zu erschaffen, die eine Tiefe haben, und Konflikte zu erzählen, die nicht nur Scheinkonflikte mit eingebautem Happy-End sind.
Für den Anfang hat Sat.1 eine Abkürzung gewählt. Die Serie „Bis in die Spitzen“, die morgen beginnt, ist eine Adaption der BBC-Serie „Cutting it“ – allerdings eine offizielle, kein heimlicher Abklatsch mit den damit verbundenen Kompromissen. Es ist die Geschichte der schicksalhaften Verbindungen zwischen zwei Paaren, die konkurrierende Edel-Friseursalons in Berlin betreiben. Der Stoff ist der, aus dem Seifenopern sind: sexsüchtige Männer, überehrgeizige und doch verletzliche Frauen, fiese Intrigen und überraschend auftauchende Kinder. Erst Inszenierung und Besetzung machen daraus eine außergewöhnliche dramatische Serie, die sich ernst nimmt und eine erstaunliche Sogwirkung entfaltet.
„‚Bis in die Spitzen‘ ist eine Serie, wie sie Sat.1 noch nicht gehabt hat“, sagt Remirez. „Es gab selten eine solche Wucht an Schauspielern in einer Serie.“ Die Hauptrollen spielen Jeanette Hain und Muriel Baumeister, Tobias Oertel und Ralph Herforth. Für gute Serienkonzepte, das sagen alle, kann man inzwischen die erste Garde deutscher Schauspieler gewinnen – das sei vor ein paar Jahren noch ganz anders gewesen. Auch insofern half es „Bis in die Spitzen“ wohl, daß es ein Original zum Vorzeigen gab. Dann mußten Sender und Produzent nur noch die Wunschschauspieler und -regisseure überzeugen, daß man das in der gleichen Qualität umsetzen wolle.
Der Sender Sat.1 entwickelt zur Zeit nach eigenen Angaben mehr Serien als je zuvor. Ungefähr zehn neue Formate sind in Arbeit. Mit der x-ten Variante eines odd couples soll Fiction-Chefin Remirez dabei keiner kommen; als Erfolgsrezept gilt auch, dem Zuschauer möglichst wenig Anlaß zu dem Gefühl zu geben, daß ihm die Konstellation irgendwie bekannt vorkommen könnte. Und es darf durchaus so etwas geben wie Relevanz, Ernsthaftigkeit, Fallhöhe. Remirez formuliert es vorsichtig so: „Es gibt zwei Fernsehtrends zur Zeit. Der eine ist der totale Eskapismus. Aber der andere ist, im Gegenteil, einen Hauch von dem aufzunehmen, was um uns passiert.“
Christiane Ruff, Chefin der Sony-Pictures-Fernsehproduktion, sagt es deutlicher: „Die Zuschauer wollen auch dahin gehen, wo es weh tut.“ Ruff war bislang Spezialistin für Comedyserien wie „Ritas Welt“, aber heute stellt sie fest: „Die Leute sind des Lachens müde geworden.“ Der Eskapismus habe neue Formen gefunden, vor allem die Telenovelas. Doch daneben gebe es ein wachsendes Bedürfnis, die Abgründe des Lebens im Fernsehen wiederzufinden. „Die Menschen haben kein Problem mehr, sich die krasse Realität im Fernsehen anzusehen. Sie ertragen ein Abbild der Wirklichkeit, auch wenn es Schläge in die Magengrube sind.“ Was sie nicht ertragen, seien Seichtigkeit und Mischkost.
Sony produziert für RTL gerade „Die Familienanwältin“, eine oft unbequeme, beklemmende Serie, unübersehbar im Hier und Jetzt verankert. „Sie zwingt den Zuschauer permanent dazu, eine moralische Haltung einzunehmen“, erklärt Ruff, „befriedigt ihn darin aber nicht unbedingt immer.“ Ob das Publikum den Mut honoriert, auf leichte Lösungen und ein tröstliches Happy-End zu verzichten, weiß natürlich niemand. „Die Bereitschaft, etwas auszuprobieren, ist in den Sendern da“, sagt Ruff, „aber auch Angst: Können wir das den Zuschauern zumuten?“
In Barbara Thielen haben Produzenten, die das Düstere und Tiefe nicht fürchten, neuerdings eine Komplizin bei RTL. Die Produzentin der bestechenden Sat.1-Krimireihe „Der Elefant“ ist seit einem Monat Fiction-Chefin bei dem Kölner Sender. „Es geht nicht unbedingt um ernste Serien“, sagt sie, „aber es geht darum, das Publikum ernst zu nehmen.“ Und: „Wir müssen durch alle Genres gehen und nach modernen Formen der Umsetzung suchen.“ Daß sie nun bei RTL verantwortlich ist, wird man erst später im Programm sehen können. Aber viel spricht dafür: Man wird es sehen können.
Sogar an Pro Sieben geht der Trend zur eigenproduzierten Serie nicht vorbei. „Nach dem vorübergehenden Boom spekulativer Reality-Formate ist wieder ein großes Bedürfnis nach starken fiktionalen Inhalten zu spüren“, sagt Christian Balz, Leiter „Deutsche Fiction“. Angesichts „neuer, erzählerisch aufregender Formate“ hätten viele deutsche Serien plötzlich „völlig verstaubt“ gewirkt: „Ein Innovationsschub in der deutschen Serienlandschaft war also überfällig.“ Die punktuellen Pro-Sieben-Eigenentwicklungen sollen aus der Lebenswelt der Zuschauer erzählt sein und den Sender „anfaßbarer machen“: „Das Tempo unserer Serien ist flotter als üblich, und der Look muß hochwertig sein und darf gegenüber den Standards der US-Serien nicht abfallen.“ Ob die gewünschte „emotionale Sogwirkung“ allerdings ausgerechnet mit der „Sex and the City“-Kopie namens „Alles außer Sex“ erreicht wird, bezweifeln viele.
Und doch: Von vielen Seiten sickert neues Leben in die deutsche Serienwelt, und sogar gelegentlich das wahre Leben. Nur die Öffentlich-Rechtlichen, für die Begriffe wie „Qualität“ und „Innovation“ doch eine Bedeutung haben müßten, scheinen merkwürdig unbeteiligt. ARD und ZDF fahren mit ihren herkömmlichen, hausbackenen Familienserien zu gut, als daß sie große Experimente wagen würden. Im Ersten gibt es immerhin eine Aufgabenteilung: Auf dem Serienplatz am Hauptabend laufen die biederen „Dr. Kleist“ und „Um Himmels Willen“ – am Vorabend, ermuntert durch den wunderbaren Erfolg „Berlin, Berlin“, moderne, junge Formate.
Nur das ZDF traut sich jenseits der inflationären „Soko“-Reihen selten, sich mehr als einen halben Schritt vom „Landarzt“ wegzubewegen. Erfolge feiert der Sender ausschließlich im Konventionellen – um den Preis, ein Serienpublikum, das „Six Feet Under“ liebt, unbefriedigt zu lassen. In dieser Woche begann man mit der Ausstrahlung einer sehr egalen Hotelserie (!) mit Ralf Bauer (!), der man nicht anmerkte, ob sie nicht vor zehn Jahren schon gelaufen ist. In zehn Jahren wird sie garantiert nicht mehr laufen.