Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Es wird nie mehr aufhören: Wie „Big Brother“ vom Auslaufmodell zum Fernsehformat der Zukunft wurde.
Es gab neulich — Sie haben das sicher verpaßt — eine total bewegende Geschichte bei „Big Brother“. Mark hatte geklagt, daß er schon viel zu lange Single sei, und die Produktionsfirma beschloß, ihm zu helfen. Sie rief die Zuschauerinnen dazu auf, sich für ein Date mit Mark zu bewerben. Zwei davon durfte er treffen und mit ihnen ein paar Minuten plaudern, danach sollte er sich entscheiden, mit welcher von ihnen er einen Tag verbringen wollte — bei Kerzenlicht und Champagner, nur er und sie. Und wir Zuschauer natürlich.
Was machte Mark? Schüchtern gestand er den Kandidatinnen, daß er sich für keine entscheiden könne, das hätte nichts mit ihnen zu tun, er könne das einfach nicht, jetzt, so spontan und überhaupt. Und die Mädchen verließen das Containerdorf, und Mark ging zurück in die Gemeinschaftsräume, und die Mitarbeiter konnten das ganze Schäferstündchen-Arrangement abräumen und mußten nicht einmal die Bettwäsche reinigen lassen, und es war ganz merkwürdig traurig und aufregend. Oder hat es das bei „Herzblatt“ schon einmal gegeben, daß ein Kandidat sagt, nö, die drei waren mir jetzt alle zu blöd, dann bleib‘ ich lieber Single?
Bei „Big Brother“ passieren Sachen, mit denen niemand rechnet, nicht einmal die Macher, und nicht alles ist so, daß man sich dafür schämt. Aus einer Sendung, die die große Fernsehrevolution versprach und vor allem entsetzliche Langeweile verbreitete, ist eine geworden, die tatsächlich regelmäßig die Gesetze des Fernsehens auf den Kopf stellt.
Das fängt damit an, daß es sie überhaupt noch gibt und daß sie ein Erfolg ist. Die tägliche Show um 19 Uhr schafft bei jungen Zuschauern im Schnitt 13,5 Prozent Marktanteil — RTL 2 hat sonst 7,8 Prozent. Das Publikum wird des Zusehens nicht müde; die Quoten sind ziemlich konstant. „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ und „Explosiv“, jahrelang die RTL-Vorabend-Bastion, leiden heftig und mußten die Werbepreise senken.
Der kommende Mittwoch ist der einhundertste Tag der fünften Staffel. Wäre alles wie früher, würden dann die letzten den Container verlassen und für ein paar hektische Wochen durch „TV Total“ tingeln, Singles aufnehmen und sich bei Neun Live bewerben, bevor sie in Vergessenheit geraten. Doch diesmal geht die Strecke über ein ganzes Jahr, und die Frage, ob das ein Mensch aushält, selbst einer dieser tätowierten, gepiercten Arbeitslosen, die überwiegend das Haus bewohnen, ist offen. Fünfzehn Kandidaten sind bis heute ausgeschieden, viele freiwillig, das sind mehr, als überhaupt aktuell im Spiel sind. Doch die gewaltige Fluktuation scheint niemanden zu stören. Nur ein paar zentrale Charaktere, die lange dabei sind, brauchen die Produzenten, um ihre Soap zu modellieren.
Denn anstatt wie früher die Fremden einfach einzusperren und zu sehen, was passiert, funktioniert „Big Brother“ heute mehr denn je wie eine „richtige“ Seifenoper, bei der die einzelnen Rollen in maßgeschneiderte Situationen gebracht werden. „Wir gehen offener und direkter mit den einzelnen Charakteren der Kandidaten um“, sagt Produzent Rainer Laux. „Wir manipulieren nicht, aber wir lösen Reaktionen aus.“ Nun ja, die Fäden, an denen die Kandidaten geführt werden, sind noch sichtbarer als früher, vor allem „Bestrafungen“ sind ein praktisches Regulativ: Als unter der Zahl der Glatzenträger im Haus die Übersichtlichkeit litt, bestand die Strafe für einen Regelverstoß für einen darin, sich nicht den Kopf rasieren zu dürfen.
Auch die Erzählweise hat sich längst aus der Strenge des dokumentarischen „Real Life“ verabschiedet. Wenn sich im Gespräch einer auf Vergangenes bezieht, zeigt „Big Brother“, wovon er redet, schwarzweiß, als Rückblende. Und wenn zwei mal wieder so endlos voreinander hinreden, nimmt der Regisseur regelmäßig den Impuls des Zuschauers vorweg und spult vor, mit lustigem Micky-Mouse-Stimmeffekt. Obwohl die Endlosdialoge nach den Worten von Laux immer noch das sind, was die Zuschauer am meisten fesselt, mehr noch als der Geschlechtsakt unter der Bettdecke. „Wenn es Sex gibt, ist das natürlich super, aber das ist nur ein kurzer Moment.“
„Big Brother“ ist trotz der Monotonie des Containerlebens zu einem der flexibelsten und vielfältigsten Fernsehformate geworden. Die „taz“ hat dafür den Ausdruck „Platzhalterfernsehen“ gefunden, was Laux gefällt. Mal wird aus der Soap ein Quiz, in dem die Bewohner gegeneinander oder sogar gegen einzelne Zuschauer antreten, mal eine Action-Show, mal eine Langzeitdoku, in der ein Bewohner auf den Marathon vorbereitet wird, mal eine Sitcom, in der die Zusammenfassungen mit Lachspur unterlegt sind. Wenn RTL ein „Promiboxen“ veranstaltet, läßt „Big Brother“ einen Bewohner schon ein paar Tage vorher gegen einen abgehalfterten Boxer antreten; zur Europawahl kommt der Bruder vom Kanzler, und alle plaudern über Politik. Die Sendung tauge auch als Labor für neue Programme, die man erst einmal günstig im festen Rahmen von „Big Brother“ teste, meint Laux.
Einmal hat „Big Brother“ den Bewohnern ein Auto in den Hof gestellt und „Touch the car“ gespielt: Alle müssen den Wagen anfassen, wer zuletzt die Hand vom Blech nimmt, gewinnt ihn. Das ist unendlich stumpf und hat doch eine merkwürdige Anziehungskraft, weil es selbst den Rahmen einer Außenwette von „Wetten daß?“ sprengt: Hier ist völlig offen, ob der letzte nach neunzig Minuten die Lust verliert oder nach dreieinhalb Tagen vor Erschöpfung unter dem Kotflügel zusammenbricht und wie groß die Opfer sind, die man dafür zu bringen bereit ist (Mark hat sich sogar in die Hosen gemacht; er hat trotzdem nicht gewonnen). Nein, das ist nicht immer schön anzusehen, meistens sogar nicht, und Produzent Laux sagt auch, daß es mit harmloser Spielroutine auf Dauer nicht getan ist: „Die Reizschwelle der Zuschauer hat sich gesteigert, da müssen wir natürlich kreativ bleiben und neue Trends setzen. Natürlich werden wir immer wieder an die Grenzen gehen. Wir verlegen mit dem Format die Schienen immer ein Stück weiter.“ Das heißt zum Beispiel, daß vor der für den Herbst angekündigten Welle von Dokusoaps über Schönheitsoperationen im deutschen Fernsehen mit Sicherheit ein Chirurg im Container auftauchen und einem Bewohner ein Angebot machen wird. Laux sagt, daß das durchaus pädagogisch sein könnte, der jungen Zielgruppe so zu zeigen, mit wieviel Unwägbarkeiten und Belastungen etwa eine Brustvergrößerung verbunden ist — der erste Aufbau eines Operationstisches im Haus ist aber dankenswerterweise vorerst abgeblasen worden.
Nicht weniger als 250 Mitarbeiter arbeiten in drei Schichten rund um den Container, und doch ist die Sendung ganz außerordentlich lukrativ. Jeden Montag rufen hunderttausend Zuschauer kostenpflichtig an, um jemanden rauszuwählen, es gibt teure Hotlines, Spiele, Logos und Klingeltöne. 50 000 Menschen geben 15 Euro im Monat allein dafür aus, bei Premiere rund um die Uhr in den Container schauen zu dürfen, macht allein schon einen Umsatz von 750 000 Euro. Den Werbekunden kann RTL 2 dann mit einiger Plausibilität erzählen, daß „Big Brother“-Zuschauer gute Konsumenten sind, die nicht zweimal überlegen, bevor sie etwas kaufen.
Bei der Produktionsfirma Endemol plant man schon für die Zeit nach dem Ende dieser Staffel im Mai 2005. Die naheliegendste Lösung liegt auf der Hand: „Big Brother 6“ könnte nicht hundert Tage dauern, nicht ein Jahr, sondern so lange, wie es sich rechnet. Also womöglich für immer.