Vergangene Woche war Thilo Sarrazin bei Günther Jauch, und keiner hat’s gemerkt.
Das stimmt natürlich nicht; die Sendung hatte fast vier Millionen Zuschauer, fast genau so viele wie „Anne Will“ am Sonntag zuvor. Aber während keine Ausgabe von „Anne Will“ unrezensiert bleibt, hat Sarrazins Auftritt bei „Stern TV“ fast keine mediale Resonanz gefunden. Sein Magazin werde „publizistisch kaum mehr wahrgenommen“, stellte Jauch vor einem halben Jahr fest. In diesem Fall war das vielleicht besser so.
Der Besuch von Sarrazin war ein guter Anlass, sich einmal anzusehen, wie Jauch mit einem solchen Gast und einem solchen Thema umgeht, bevor er demnächst den traditionsreichen Polit-Talk am Sonntagabend im Ersten übernimmt. Er machte keinen guten Eindruck.
Seine Redaktion auch nicht. Bevor Sarrazin im „Stern TV“-Studio sprach, sprach er, wie in dieser Sendung üblich, in einem „Stern TV“-Filmbericht und erklärte, wie Deutschland zu retten sei. Zum Beispiel: „Wer seine Kinder nicht vernünftig beschult, dem wird die Sozialhilfe teilweise gestrichen. Wenn Kinder die Schule schwänzen, gibt es Geldstafe für die Eltern.“ Sarrazin erwähnte nicht, dass Schulschwänzen bereits jetzt eine Ordnungswidrigkeit darstellt und Eltern von Schulverweigerern ein Bußgeld droht. „Stern TV“ erwähnte es auch nicht.
Jauch rollte Sarrazin einen kuscheligen roten Teppich aus. Seine erste Frage lautete: „War ihnen klar, dass Sie über eine Million Bücher verkaufen würden und dass sie im Grunde so einen Integrationsdebattentsunami über Deutschland auslösen würden?“ Kritische Fragen verpackte er in dickste Watte: „Viele sagen: ‚Der hat ja nicht ganz unrecht, aber er bringt uns nicht weiter. Durch sein Buch werden die Dinge nicht besser, der Graben zwischen Deutschen und Menschen mit Migrationshintergrund, der wird dadurch vertieft anstatt dass er zugeschüttet wird.‘ Sie würden die Probleme nicht lösen, sondern nur vertiefen. Ist da nicht was dran?“ Oder: „Wenn Sie mit Ihrem Buch gar nicht provozieren wollten, wenn man das alles, was sie schreiben, ja wohl auch noch wird sagen dürfen in diesem Land, warum haben Sie denn dann den Dienst quittiert?“ Ob der Halbsatz mit dem, was man ja wohl nach sagen dürfen wird in diesem Land, ein Zitat der entsprechenden „Bild“-Schlagzeile oder Jauchs Meinung, blieb offen.
Jauch sagte: „Es gibt Umfragen, die besagen, dass Sie mit ihren Thesen durchaus eine neue politische Partei gründen könnten, die auf Anhieb erfolgreich wäre. Die einen sagen 18 Prozent, andere sagen 20 Prozent, andere sind in ihren Schätzungen noch optimistischer.“ Die Zahlen, die Jauch nennt, sind tatsächlich durch die Medien gegangen, aber ihre Interpretation ist falsch. 18 ist – laut einer Emnid-Umfrage – nicht der Prozentsatz, den eine Sarrazin-Partei bei Wahlen erringen würde, sondern die Zahl der Menschen, die es sich „vorstellen“ können, eine solche Partei zu wählen. Ein gewaltiger Unterschied.
Jauch zitierte den Satz von Bundespräsident Christian Wulff, der Islam gehöre zu Deutschland, und fragte Sarrazin: „Sehen Sie das auch so?“ Sarrazin antwortete unter anderem:
„Was er meint und hätte sagen sollen: Wer islamischen Glaubens ist und bei uns die Gesetze einhält und sich einfügt, kann und soll bei uns leben, wenn er denn sein Brot selber verdient. Das wäre eine vernünftige Aussage.“
Was für eine bemerkenswerte Formulierung, die deutlich macht, wie Sarrazin Moslems diskriminiert. Sie müssen aufgrund ihrer Religion offenkundig Anforderungen erfüllen, die Christen, Atheisten und Agnostiker nicht erfüllen müssen. Was soll, seiner Meinung nach, mit muslimischen Deutschen passieren, die nicht ihr Brot selber verdienen? Oder meint Sarrazin hier nur muslimische Einwanderer? Das wäre aber eine erstaunliche Ungenauigkeit, wo er unmittelbar zuvor dem Bundespräsidenten, stotternd und sich verhaspelnd, vorgeworfen hat, unsauber zu formulieren.
Und was machte Jauch? Er hakte nicht nach, er sprach Sarrazin nicht darauf an, er las die nächste Frage von seiner Karte ab.
Sarrazin sagte noch mehr erstaunliche Sätze. Zum Beispiel:
„Die Wahrheit bringt immer weiter. Und die Wahrheit kann auch nie schädlich sein. Ich habe immer darauf gewartet, dass irgendwer mal kommt und sagt: ‚Das und das in dem Buch ist falsch. Das und das ist logisch falsch, hier sind falsche Zahlen.‘ Das hat es nicht gegeben. Von den Argumentationslinien meines Buches ist bis heute eigentlich keine widerlegt oder auch nur hinterfragt worden.“
Später sagte er, die „Tatsachen und Zusammenhänge“ aus seinem Buch seien „bis heute unbestritten“. Man kann sich womöglich darüber streiten, ob Aussagen und Argumentationen aus Sarrazins Buch widerlegt wurden. Aber zu behaupten, niemand hätte ihm faktisch widersprochen oder seine Argumente hinterfragt oder bestritten, ist offensichtlich unwahr. Jauch ließ es ihm durchgehen.
Die Redaktion hatte für einen weiteren Filmbericht verschiedenen Familien ausgesucht, die gelungene und misslungene Integration repräsentieren sollten. Auf der einen Seite: Arabische Großfamilien mit Menschen, die auch nach vielen Jahren in Deutschland kein deutsch sprechen. Auf der anderen Seite: Einwanderer aus Kasachstan, deren Kinder schon kein russisch mehr sprechen, dafür aber jeder ein Musik-Instrument gelernt haben. Der Kontrast zwischen dem abgeschotteten Ghetto im Hochhausviertel und der heilen Welt im Einfamilienhaus in der Kleinstadt war fast schon lächerlich maximal – und hätte zu der fruchtbaren Frage führen können, in welchem Maß der soziale Status (im Gegensatz zur Fixierung auf Herkunft und Religion) eine Rolle bei der „Integration“ spielt.
Fakten, Statistiken, Studien darüber, wie typisch die gezeigten Fälle sind, erwähnte „Stern TV“ nicht. Jauch sagte bloß, die Nicht-Integrierten, die zu sehen waren, seien ja wohl keine Einzelfälle. Es hätte dann noch eine Diskussion geben sollen, aber die scheiterte schon an der Auswahl der Gäste. Houaida Taraji, die Familien- und Frauenbeauftragte im Zentralrat der Muslime, hatte zu der Diskussion nichts beizutragen. Und der Stadtteilmanager von Bremen-Tenever, Joachim Barloschky, hätte zwar von seinen persönlichen Erfahrungen im täglichen Umgang mit vielen Nationen in einem Problemviertel berichten können – dazu hätte man ihn aber dazu befragen müssen.
Nach insgesamt über einer halben Stunde zu dem Thema bedankte sich Jauch bei den Diskussionsteilnehmern herzlich dafür, dass es „richtig Hin- und Hergegangen“ sei, denn das sei auch „Sinn der Sache“ gewesen.
Dem „Zeit“-Magazin hat Günther Jauch im vergangenen Jahr erzählt, welches Gefühl er manchmal hat, wenn er eine politische Talkshow sieht:
„Ich sitze oft vor dem Fernseher und denke: So, jetzt hat sie oder er den Politiker! Der Ball liegt vor dem leeren Tor, man muss ihn nur noch reinschieben. Aber was passiert? Die Kollegen stoppen den Ball und laufen mit ihm in die andere Richtung.“
Am vergangenen Mittwoch hatte er selbst nicht einmal Ballkontakt.