Ein Besuch in der Welt des Carsten Spengemann, in der Deutschland den Superstar schon gefunden hat.
Sie springen von ihren Sitzen, als er auftritt. Er läuft schwungvoll die Treppe herunter, und alle Menschen stehen in der Halle. Sie toben, brüllen, applaudieren. Seine Augen glänzen. „Hallo!“ ruft er. „Hallo!“ Es ist nicht nur eine Begrüßung, es ist auch ein Ausdruck des Staunens. Er rollt die Karten, die er in den Händen hält, und sagt: „Eins ist klar: Das nenn‘ ich schon mal richtig großen Applaus. Denn: Sowohl das Studiopublikum als auch Sie zu Hause haben natürlich lange — “ Er bricht ab und lacht. Keine Chance. Das Publikum hat sich noch nicht beruhigt.
Außer den tausend im Studio sehen ihn jetzt zwölf, dreizehn, vierzehn Millionen Menschen zu Hause vor ihren Fernsehgeräten. Sehen ihn, Carsten Spengemann, den Moderator von „Deutschland sucht den Superstar“: 30 Jahre jung, strahlend lächelnd, braungebrannt, haargegelt, schlank, groß, makellos.
Er bekommt Fanpost in Kisten. 800 Briefe passen in jede. Er hat vorher am Vorabend in der ARD-Soap „Verbotene Liebe“ gespielt, da schmachteten ihn die Mädchen auch an. Das war Zielgruppenfernsehen. Jetzt bittet ihn am Flughafen der Geschäftsmann im Maßanzug um Autogramme. Für Frau, Kinder, Zimmermädchen. Wie groß die Show wird, wie groß er wird, merkt er im Dezember. „Als der Pizzabote vor mir stand und den Karton fallen ließ.“ Spengemann erklärt ihm: Doch, er sei es wirklich, und sortiert den Belag wieder auf die Pizza. „Das ist ein Moment, den werde ich mein ganzes Leben nicht vergessen“, sagt er.
„Ich wollte diesen Job immer machen, ich habe viel dafür getan. Ich habe das von der Pieke auf gelernt. Deshalb ist es für mich das schönste Gefühl zu wissen: morgen ist Probe. Ich freue mich wie ein kleines Kind darauf. Das ist, wie auf den Abenteuerspielplatz zu gehen.“ Er sagt, es sei bei ihm wie bei den Kandidaten: „Für mich ist ein Traum in Erfüllung gegangen.“ Nein, diese Riesenchance spüre er nicht als Last. „Wenn ein Rennfahrer eine Testfahrt in der Formel 1 angeboten bekommt, was geht ihm durch den Kopf? Ich glaube, der denkt nicht über den Druck nach, sondern will einfach fahren, Spaß haben, das Auto ausprobieren. Genauso ist es bei mir. Natürlich ist mir klar, daß RTL mich ausgesucht hat und es da auch eine Erwartungshaltung gibt. Diese Erwartung habe ich, glaube ich, erfüllt.“
Carsten Spengemann ist über Nacht berühmt geworden. Die ganze Welt kennt ihn. Für Stefan Raab ist er „die Elster“. Die „Bild“-Zeitung nennt ihn „Pannemann“. Radiosender machen lustige Serien über ihn und wünschen sich Aufsager wie: „Hallo, ich bin Carsten Spengemann, und ich klaue nur Radios, auf denen Radio X. läuft.“ Ein Richter hat ihn verurteilt, weil er den Cartier-Ring einer flüchtigen Frauenbekanntschaft unterschlagen haben soll. Ein Kollege behauptet, Spengemann habe einen Koffer entwendet. Spengemanns Mutter soll eine uneheliche Tochter von Hans Albers sei, was diverse Hans-Albers-Fanclubs für einen Witz halten.
Tagelang diskutiert die halbe Nation, schenkelklopfend, aber detailverliebt, ob Spengemann beim Alsterradio ein Volontariat (wie er sagt) oder ein Praktikum (wie der Sender sagt) absolviert hat. Daß den meisten vorher — völlig zu Recht — die Existenz eines „Alsterradios“ gänzlich unbekannt war, tat der Ernsthaftigkeit der Diskussion und der Schwere der Anschuldigungen keinen Abbruch.
Die Welt ist verrückt geworden. Und Carsten Spengemann?
Sitzt im Eßzimmer seiner Managerin und ist glücklich. Er sieht in Natur noch perfekter schön aus als im Fernsehen, falls das überhaupt vorstellbar ist. Die Haut noch gebräunter, die Augen faszinierend hellgrau, das weiße Hemd weit genug geöffnet, den Blick auf kurzgeschorene Brusthaare freizugeben. Er raucht Kette, sagt „du“, wirkt edel, aber ungeschliffen und mit seinem Hamburger Dialekt sehr kumpelhaft. Und er freut sich darauf, wie es weitergeht mit seiner Karriere, jetzt, nach diesem unfaßbaren Erfolg, den er hat.
Er hat gute Argumente gegen das, was ihm vorgeworfen wird. Wenn man ihm zuhört, wie das abgelaufen sei, im Prozeß zum Beispiel, klingt das plausibel, und auch die ungeschickte Geschichte von seinem „Opa“ Hans Albers will er nie selber lanciert haben, sondern eine Ex-Freundin, Journalistin, die dabei war, am Totenbett der Großmutter. Es ist leicht, ihm zu glauben, daß ihm übel mitgespielt wurde. Die Managerin ruft, noch ehe man richtig in ihrem Büro ist: „Er ist ein Opfer! Carsten ist hier das Opfer!“
Carsten Spengemann hat eine These, warum er ein Opfer wurde. „Von 17.55 Uhr auf 21.15 Uhr zu wechseln — das gab es noch nie in Deutschland“, sagt er. „Es gab noch nie den Sprung, daß jemand aus einer Soap kam und die Chance hatte, ganz großes Fernsehen zu machen. Das bringt viele Leute auf den Plan, die meinen: Es kann nicht sein, daß jemand aus einer Soap kommt — zwar Schauspielerei gelernt hat und jetzt auch noch moderieren kann — plötzlich eine Quote hat, die es sonst nur bei ,Wetten, dass …?‘ gibt.“
Das wäre soweit nicht unplausibler als andere Verschwörungstheorien, gäbe es nicht einen Haken: Es beruht auf der Annahme, daß der ehemalige Hamburger Türsteher und Soap-Darsteller Carsten Spengemann gerade einen unglaublichen Erfolg feiert, den ihm die Welt neidet. Bei RTL selbst sagt man, daß das Moderatorenpaar ungefähr das Unwichtigste an der Sendung ist. Spengemann dagegen hält „Superstar“ für seine Sendung und ihren Erfolg für seinen Erfolg, etwa so, wie Susan Stahnke die „Tagesschau“ für „ihre“ Sendung hielt. Er erfindet zwar im Gespräch kluge, treffende Metaphern: „Ich bin ein Rädchen im Uhrwerk. Vielleicht, wie bei einer Glasuhr, das Rädchen im Boden, das man als erstes sieht. Ich bin ein Teamspieler.“ Aber jedesmal, wenn es um die Sendung geht, sagt er „ich“ statt „wir“ und spricht von seinen 15 Millionen Zuschauern.
Mehrmals erzählt er, daß die Medien ja alles mögliche Schlechte über ihn erzählten, aber niemand, niemand werfe ihm vor, nicht moderieren zu können oder einen schlechten Job zu machen. Vielleicht hat er die „Süddeutsche“ nicht gelesen, deren positivste Formulierung war, ihn einen „professionellen Schön-Ausseher“ zu nennen. Oder die Fernsehbeilage des Stadtmagazins „Tip“, bei der im Programmteil stand: „Moderation, falls man das überhaupt so nennen kann: Michelle Hunziker und Carsten Spengemann.“ Oder die „Berliner Zeitung“, die schrieb: „Spengemann könnte für die Kandidaten zum lebenden Beweis werden, daß man es auch ohne alle Gaben auf die Bühne schaffen kann.“
Carsten Spengemann ist bestimmt kein dummer Mensch und wahrscheinlich auch kein Dieb oder chronischer Lügner. Aber er glaubt, daß er die Riesenchance, die er bekam, voll genutzt und sich durch seine professionelle Leistung für große zukünftige Fernsehaufgaben empfohlen hat. „Sein Realitätsverlust ist dramatisch“, sagt ein RTL-Mitarbeiter.
Doch der Moderator bekommt den Erfolg ja täglich bestätigt: In der Fanpost. Von den Menschen auf der Straße, die ihm auf die Schulter klopfen und sagen: Wir glauben an dich! Vom Berliner Bürgermeister, der ihm, wie er erzählt, beim „Echo“ gesagt habe, er solle bloß nicht hinschmeißen. Von seinem Sender, der öffentlich erklärt, Spengemann „ist und bleibt“ der Moderator. So sehr er die Kritik, die Wirkung der furchtbaren Boulevardgeschichten, seinen Status als aktuelle Lachnummer der Nation ausblendet oder als eine normale „Begleiterscheinung“ des Erfolges nimmt, so sehr nimmt er jedes positive Bekenntnis, das zu so einem öffentlichen Dasein gehört, für bare Münze. Ginge man mit ihm in ein Rockkonzert, würde er wohl hinterher glücklich sagen: „Wahnsinn! Wir waren das beste Publikum, das sie je hatten.“
Wie lebt einer, der es so heftig abbekommen hat? „Muhammad Ali hat es auch mal richtig auf die Augen gekriegt und stand am nächsten Morgen auf und fragte sich: Ist es das wert? Was hat er gemacht? Er hat sich den Typen vorgenommen und Revanche genommen und gewonnen. Weil er seinen Job geliebt hat. Und genauso ist es bei mir.“
Er vergleicht sich mit Robbie Williams, der ja auch, wie er, den Sprung vom belächelten Teenie-Star in die allererste Reihe schaffte. Über den ja auch, wie über ihn, so viele schlimme und wahrscheinlich zu 99,5 Prozent erfundene Geschichten geschrieben wurden. Bei dem es ja auch, wie bei ihm, das Publikum nicht mehr interessiere, weil seine Arbeit über jeden Zweifel erhaben ist.
Er glaubt, daß alles gut wird: „Ich habe keine Leichen im Keller. Die Presse hat jetzt meinen Keller, meinen Dachboden und die Tiefkühltruhe abgesucht und dreimal den Garten umgegraben. Das Gute ist: Die Gerüchte und Trittbrettfahrer sind jetzt hoffentlich durch und langweilig.“ Auch die „Bild“-Zeitung sei zumindest schon halb umgeschwenkt. Er folgert das aus einem Interview mit der „Bild am Sonntag“ vergangene Woche, in dem jede einzelne Frage ein Witz auf seine Kosten ist.
Es ist tragisch. In der Welt von Carsten Spengemann ist Carsten Spengemann ein erfahrener Live-Moderator, weil er regelmäßig einen Pausenfüller im WDR-Werbefernsehen namens „Studio 1“ moderiert hat, wo Leute anrufen und etwas gewinnen konnten.
Vielleicht ist er wirklich ein umgänglicher Kerl, auch wenn er ein paar Mal im Beisein des Reporters ausrastet, wenn ihn seine Managerin ins Wort fällt, und er mit rollenden Augen auf den Tisch haut und ein paar Sekunden wie ein Amok-Läufer vor dem Zücken der Waffe wirkt. Aber jemand müßte ihm sagen, daß es nicht geschickt ist, einen Richter zu beschimpfen, öffentlich Witze über die Co-Moderatorin zu reißen oder sich mit Robbie Williams zu vergleichen. Jemand müßte ihm erklären, warum Oliver Geißen, ein anderer junger Hamburger Moderator, öffentlich sogar jeden Vergleich mit Thomas Gottschalk ablehnt. Jemand müßte ihm erzählen, wie Leute von RTL und der Produktionsfirma Grundy reagieren, wenn man ihnen erzählt, daß Spengemann kaum Ferien machen will, um gegebenenfalls bereitzustehen für die nächste „Superstar“-Staffel: Sie schweigen, lang und unmißverständlich.
Jemand, der es gut mit ihm meint, müßte ihm sagen, daß ein längerer Urlaub gerade wirklich nicht schaden kann.
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