Sexbesessene, Nekrophile und andere Schauspieler steigern die Quote — mit echten Perversen ist kaum ein Talk mehr zu machen.
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Die besten Geschichten schreibt nicht mehr das Leben. Die besten Geschichten schreibt die Redaktion von Richter Alexander Hold. Nächste Woche treffen sich vor seinem Gericht: ein arbeitsloser Schreiner, der seine minderjährige Freundin zum Sex mit seinem Vermieter zwang, eine Hausfrau, die das Glied ihres Ehemannes im Beisein ihrer Schwiegermutter nachhaltig mit einem Teppichmesser attackierte, ein Schüler, der während einer Theateraufführung einer Mitschülerin statt mit einer Attrappe mit einem echten Messer in den Unterleib stieß, ein Ehemann, der den Liebhaber seiner Frau im eigenen Ehebett mit einem Tennisschläger krankenhausreif schlug, sowie ein Bestattungshelfer, der den Kopf einer Leiche mit einem Schlachtermesser abtrennte.
Das Leben ist einfach zu beschäftigt, Geschichten über verlegte Schlüsselbunde oder verfärbte Oberhemden zu schreiben, um genügend Geschichten über Mütter zu produzieren, die ihre Kinder in Bahnhofsschließfächer einsperren, bevor sie auf den Strich gehen, wie sie Richter Hold für seine Sendung auf Sat.1 benötigt. Und wenn das Leben dann doch einmal dazu kommt, lassen oft Dramaturgie oder Inszenierung zu wünschen übrig — oder die Besetzung, und dann sitzt zwar die halbe Familie bei „Vera am Mittag“, aber keiner schafft es, die aufregenden Geschehnisse einigermaßen fesselnd und stringend nachzuerzählen.
Seit dem Start von „Hans Meiser“ im September 1992 haben uns die Fernsehmacher erzählt, daß die Menschen nichts lieber sehen wollen als einfache Leute, real people, „authentische“ Geschichten. Die Demokratisierung des Mediums wurde gefeiert, Menschen, die man vorher nie im Fernsehen gesehen hatte, füllten tagsüber die Bildschirme: Menschen, deren Armut man an den fehlenden Zähnen sehen und deren Sprachlosigkeit man hören konnte, bevor sie einen Ton gesagt hatten. Teile der deutschen Unterschicht schienen dank der täglichen Talks über Jahre von der Straße gekommen zu sein und ein Studiodach über den Kopf bekommen zu haben.
Vorbei. Die Inflation von Gerichtsshows am Nachmittag ist vor allem ein Sieg der freien Fiktion über die inszenierte Realität im Fernsehen. Zuletzt waren „Reality“ und „Authentizität“ die Standardrezepte der Fernsehleute gegen rückläufige Quoten – heute ist es das Gegenteil. Die Zuschauerzahlen der traditionellen Nachmittagstalkerin Nicole Noevers auf Pro Sieben stürzten ab, als RTL gegen sie die erfundenen Geschichten von Richterin Ruth Herz im „Jugendgericht“ in Stellung brachte, vor dem etwa Oscar (17) gegen Frederik klagt, weil der seinen Vollrausch zum Sex nutzte, obwohl er gar nicht schwul sei. Nicoles Redaktion lud daraufhin die echten Problemfälle aus und katapultierte sich mit Laiendarstellern weit zurück in die Steinzeit, die bei Talkshows „Karalus“, „Schmuddel“ und „Krawall“ heißt: Da diskutiert die Familie, wie der Vater die minderjährige Freundin seiner Tochter sexuell belästigte, was ihm Nicole per DNA-Test in der Sendung nachweist, und einmal schaltet sie „live“ vor den Kreißsaal, wo die Ankunft eines neues Kindes irgendein Familiendrama gerade dramatisch verschärft. Dies tat Nicoles Quoten gut – bis Richter Alexander Hold kam und den Perversen, Spinnern, Durchgeknallten und Mördern in seiner Sendung nicht mit dem Rat einer Psychologin kam, sondern sie gleich verknackte. Pro Sieben erlöst die nun der Quoten und Glaubwürdigkeit gleichermaßen beraubte Moderatorin durch Einstellung der Sendung.
Sat.1-Psychologin Angelika Kallwass, die mit der Richter-Schwemme auf den Bildschirm gespült wurde, setzte als einzige der Neuen auf „echte Menschen“ als Sendematerial — und wird dafür vom Publikum gnadenlos ignoriert. Von der übernächsten Woche an nehmen Autoren auch bei „Kallwass“ dem Leben das Schreiben der Geschichten aus der Hand. Mit Schauspielern lasse sich das Tempo der Sendung steigern, sagt Sat.1-Sprecherin Kristina Faßler — im echten Mutter-Sohn-Konflikt lassen die Tränen in der Show oft eine Viertelstunde auf sich warten!
Es ist ein erster und letzter verzweifelter Rettungsversuch, der der Sendung Action injiziert — und den Sinn nimmt. Warum sollte man Schauspielern zusehen, wie sie so tun, als würden die Vermittlungsversuche einer echten Psychologin funktionieren?
Andererseits: Warum sollte man echten Richtern zusehen, wie sie schlechte Schauspieler zu fiktiven Gefängnisstrafen verurteilen? Trotzdem tun es die Menschen in Scharen. So entstehen die traurigsten Karrieren der Welt, wie die von Hold, 39, der sechs Jahre Rechtswissenschaften, Politikwissenschaft und Philosophie studierte, ein dreijähriges Rechtsreferendariat machte, fünf Jahre als Staatsanwalt und drei als Richter arbeitete, um sich heute im Privatfernsehen vor als Sexmonstern verkleideten Laiendarstellern aufzuplustern, Autorität zu heucheln und ihnen streng ins Gewissen zu reden.
Ganz ohne Podium sind „echte Leute“, die im Fernsehen über ihre Potenzprobleme reden wollen, noch nicht. Im Moment sieht es so aus, als würden von den dreizehn klassischen Talks sieben übrigbleiben, und deren Moderatoren beteuern, daß sie niemals wie Nicole zur Fiktion greifen würden: „Warum soll man sich eine solche Show ansehen, wenn da nur Darsteller Emotionen spielen“, fragt Bärbel Schäfer. Sie glaubt, daß Authentizität nach wie vor der Hauptgrund ist, aus dem die Zuschauer ihre Sendung einschalten, und das tun sie im Moment ganz eifrig. Die Flucht der Kollegen in die Fiktion sei auch die Möglichkeit, „noch einmal Themen aufzugreifen, die wir mit echten Gästen aufgrund des freiwilligen Verhaltenskodex der Talkshows gar nicht machen dürften“.
Mit dem Abschied von der Authentizität sind die Fälle nicht nur skurriler geworden (nächste Woche bei Richterin Barbara Salesch: der Nacktwanderer, der von einem prüden Ehepaar über einem Ameisenhaufen gefesselt wird), sondern Themen und Tonfall dramatisch schärfer. „Ein großer Reiz in den erfundenen Geschichten liegt für die Sender darin, daß sie exakt das Niveau bestimmen können, auf dem ihre Shows spielen sollen“, sagt Joachim von Gottberg, Geschäftsführer der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen. Mit Schauspielern könnten die Macher bis hart an die Grenze des Erlaubten gehen – ohne die Gefahr, daß ein unkontrollierter Gast sie überschreitet. Und wenn ein Richter oder eine Psychologin am Ende der Sendung ein Urteil fällen, können auch die gefährlichsten Praktiken ausführlich diskutiert werden – mit dem dramaturgisch zwingenden Schluß wird in jedem Fall die elementare Forderung der Jugendschützer nach einer „Einordnung“ problematischer Verhaltensweisen „in der gebotenen Schärfe in den normativen Kontext“ erfüllt.
Fiktionale Talk- und Justiz-Shows haben, wenn der Zuschauer sie grundsätzlich akzeptiert, nur Vorteile für die Sender: Alles läßt sich steuern, von Varianten des „Maschendrahtzaun“-Wahns bedrohte Laienopfer stehen nicht mehr zu befürchten, die teure Gästesuche entfällt, ein Großteil der Auseinandersetzung mit Landesmedienanstalten ebenso und die lästige Frage, ob nicht die „echten Leute“ ohnehin vielleicht Hochstapler oder Schauspieler waren, sowieso. Daß zu den ab Dezember vier Fiktion-Talkshows weitere hinzukommen werden, gilt als sicher.
Und die echten Leute? Dürfen bei Günther Jauch auf dem unbequemen Hocker kauern oder sich die Füße wundtanzen, um ganz vielleicht Popstars zu werden. Aber ohne dramaturgischen Rahmen auf eine Talkbühne oder in einen Container kommen sie nicht mehr in neue Shows auf den Bildschirm. Bei der Nachfolgesendung für Pro-Sieben-Talker Andreas Türck mit Tobias Schlegl ist Gespräch nur noch ein Element, „auf das wir nicht verzichten wollen“, wie Produzentin Bärbel Schäfer sagt, aber drum herum wird es Musik, Außendrehs, Show geben.
Und von „Versuchung im Paradies“, der letzten „Big Brother“-Variante, die auf RTL am späten Samstagabend läuft, wird es wohl keine Fortsetzung geben: Weit weniger Zuschauer, als RTL erwartet, wollten zusehen, ob „echte“ Paare auf einer einsamen Insel bei entsprechendem Angebot fremdgehen. Bei der Firma Endemol, die ein ähnliches Format im Angebot hat, sagt man, der mangelnde Erfolg sei kein Wunder. Wenn man die Situation der Paare nicht mit ein paar erfundenen Geschichten über das, was der Partner angeblich gerade getrieben hat, anheizt, sei der Zuschauer für die Sendung nicht zu gewinnen.
(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung